Stimmengewirr erfüllte den Raum. In der Luft stauten sich die Ausdünstungen, die aus den dunklen Stoffen der Dienstuniformen aufstiegen. Ein leichter Schwindel erfasste Leonie. Sie zog die Handschuhe aus und bewegte vorsichtig ihre klammen Finger.
Irene kam auf sie zu. „Der Wetterbericht hat für morgen wieder Schnee angesagt. Wenn das so weitergeht, fallen noch mehr Leute aus.“
Leonie antwortete nicht. Sie wollte endlich die Taschen loswerden, die ihr jetzt fast ebenso schwer vorkamen, wie sie es am Morgen gewesen waren, mit all der Post darin. Mit langsamen Schritten durchquerte sie den Raum. Als sie Carl erblickte nickte sie ihm zu. „Ich bin gleich so weit.“
Carl schaute sie verlegen an. „Tut mir leid. Wir können uns heute Abend nicht sehen. Ich hatte vergessen … heute ist das Champions League Spiel … “ Carl verstummte.
Leonie schluckte. „Schon gut“, murmelte sie und nestelte an einem der Taschenverschlüsse. Sie hoffte, Carl würde noch irgendetwas sagen. Sie öffnete die Tasche, schloss sie, öffnete sie wieder, und plötzlich wurde ihr heiß. „Schon gut“, wiederholte sie. Sie wandte sich abrupt um und eilte in den hinteren Teil des Raums. Auf ihrer Stirn bildeten sich Schweißtropfen. Sie sah sich um, griff in die Tasche, nahm einen Brief heraus und steckte ihn mit einer schnellen Bewegung in ihre Jacke. Sie hatte einen Brief übersehen! Wie hatte so etwas passieren können! Wieder blickte sie sich um, hoffentlich hatte sie niemand beobachtet. Sie würde den Brief noch heute Abend zu seinem Empfänger bringen.
Eine Hand legte sich auf Leonies Schulter, sie schrak zusammen.
„Ich fahre dich nach Hause.“ Carl lächelte sie an.
„Nein“, wehrte Leonie ab. Ihre Stimme klang hoch und schrill.
„Jetzt bist du sauer“, sagte Carl, „lass mich dich wenigsten nach Hause fahren.“
Der Wind trieb Leonie den Schnee ins Gesicht. Unter einer Straßenlaterne blieb sie stehen und zog den Brief hervor. Er war an eine Frau Wittinghoff adressiert. Vor Leonies Augen erschien das Bild einer netten alten Dame. Sie steckte den Brief, auf dem die Schneeflocken tauten, wieder in ihre Jackentasche. Leonie fühlte sich müde, und ihre Füße schmerzten. Sie beschloss, nach Hause zu gehen, ein Bad zu nehmen, heißen Tee zu trinken und den Brief zu trocknen. Sie konnte ihn auch morgen zustellen, heute würde Frau Wittinghoff sicher nicht mehr in den Briefkasten schauen.
In ihren Bademantel gehüllt, saß Leonie am Tisch und wartete, dass das Wasser zu kochen begann. Sie betrachtete den Brief, der inzwischen ein wenig zerknittert aussah. Aber schließlich kam er aus England, und das war ein weiter Weg. Durch die Nässe hatte sich an einigen Stellen die Gummierung aufgelöst, und der Umschlag sah aus, als hätte jemand versucht, ihn zu öffnen. Leonie dachte daran, einen Klebestift zu holen, sie erhob sich, und ehe sie einen weiteren Gedanken fassen konnte, hielt sie den Brief bereits über den Wasserdampf, der dem Teekessel entströmte. Sie war ganz aufgeregt. Ein Brief aus England, Leonie hatte bisher niemals Post aus England erhalten. Wenn sie es genau bedachte, hatte sie seit langem gar keinen Brief mehr erhalten.
Das Klingeln des Telefons riss Leonie zurück in die Wirklichkeit. Sie nahm nicht ab.
Als Leonie am nächsten Morgen ihre Küche betrat, sah sie den Brief auf dem Tisch liegen. Es war also kein Traum gewesen, sie hatte einen Brief geöffnet, der nicht für sie bestimmt war. Nun ja, gelesen hatte sie ihn nicht, was also war Schlimmes geschehen? Und überhaupt, dachte sie, wer schreibt denn heutzutage noch Briefe? Nachdenklich betrachtete sie den Umschlag. Er kam von keiner Behörde und enthielt auch keine Rechnung wie die meisten der Briefe, die tagtäglich durch Leonies Hände gingen. Mit dem Zeigefinger strich sie über die mit blauer Tinte geschriebenen Buchstaben. Die Schrift war an einigen Stellen bereits unleserlich, aber Leonie wusste ja, an wen der Brief gerichtet war.
„Ich habe versucht, dich gestern Abend anzurufen“, sagte Carl.
„Ich weiß“, antwortet Leonie. „Schreibst du manchmal Briefe?“, fragte sie dann.
Carl schüttelte den Kopf. „Wem sollte ich schreiben?“
Besorgt schaute Irene Leonie an. „Hoffentlich wirst du jetzt nicht auch noch krank.“
„Ich muss los“, meinte Leonie.
Verblüfft sah Carl ihr nach. „Was hat sie denn? Will sie, dass ich ihr einen Brief schreibe?“
Irene zuckte mit den Schultern. „Ihr seht euch doch jeden Tag.“
Pfützen auf den Straßen waren das Einzige, das von dem Schnee geblieben war. Immer wenn Leonie an dem Haus, in dem Frau Wittinghoff wohnte, vorbeikam, hielt sie Ausschau nach der alten Dame. Und jedes Mal war sie erleichtert, ihr nicht begegnet zu sein. Ansonsten hätte sie ihr sagen müssen, was in dem Brief stand. Leonie hatte wissen wollen, von wem der Brief kam, und so war es geschehen, dass sie ihn gelesen hatte.
Und eines Tages sah sie Frau Wittinghoff tatsächlich. „Guten Tag“, begann Leonie. Sie versuchte, freundlich zu lächeln, es gelang ihr nicht. So oft hatte sie sich ausgemalt, was sie sagen würde, wie sie alles erklären würde, und nun fehlten ihr die Worte. Sie war irritiert. Frau Wittinghoff war viel jünger, als Leonie sie sich vorgestellt hatte. Alles war anders, als Leonie es sich vorgestellt hatte.
„Niemand schreibt mir“, Frau Wittinghoff schaute in ihren Postkasten, „nicht einmal eine Karte hat mein Sohn für mich übrig.“
„Er hat bestimmt an Sie gedacht“, sagte Leonie zaghaft, „Wissen Sie, manchmal da …“, Leonie überlegte, sie suchte nach einer geeigneten Formulierung. „Also manchmal, da geschieht etwas Unerwartetes, und Ihren Sohn, den trifft gar keine Schuld …“
Frau Wittinghoff unterbrach Leonie. „Was wissen Sie denn von meinem Sohn?“
Leonie errötete.
Frau Wittinghoff wandte sich um und ging zurück ins Haus.
Nett ist sie auch nicht, dachte Leonie, es ist nicht verwunderlich, dass ihr Sohn ihr nicht schreibt.
„Das habe ich kommen sehen“, seufzte Irene, „und ausgerechnet jetzt, so kurz vor den Festtagen. Es wäre gut, wenn du durchhältst, Weihnachten kannst du dich ausruhen.“
„Ich habe Karten für das Konzert am zweiten Feiertag“, sagte Carl, „es sollte eine Überraschung sein.“
Leonie nahm das Päckchen Taschentücher, das Carl ihr reichte. „Ich weiß nicht, was ich machen soll!“ Sie nieste so heftig, dass ihr die Tränen über das Gesicht liefen.
Irene zog ihre Augenbrauen in die Höhe. „Am wichtigsten ist jetzt, dass die Leute ihre Weihnachtspost erhalten, die warten doch alle darauf.“
„Das Konzert ist auch wichtig“, erwiderte Carl.
Das Schlucken bereitete Leonie Mühe. Sie sah Carl und Irene an und sagte: „Ich muss noch etwas erledigen.“
Der Geruch von heißem Öl und Glühwein verursachte ihr Übelkeit. Sie drängte sich durch Menschenmassen. Auch im Kaufhaus erklangen Weihnachtslieder. In der Schreibwarenabteilung entschied Leonie sich für weißes Papier.
Zwei Tage lang hatte Leonie fast nur geschlafen. Jetzt saß sie am Tisch und beobachtete, wie der Zucker langsam vom Löffel rieselte. Jedes ZuckerkKörnchen sank mit immer schneller werdender Bewegung bis auf den Boden der Tasse. Leonie rührte den Tee um und trank einen Schluck. Nachdem sie die Tasse ausgetrunken hatte, erhob sie sich, zog ihre Jacke an und wickelte sich den Schal um den Hals. Dann nahm sie die Briefe, die auf dem Tisch lagen, und steckte sie in ihre Tasche.
„Thomas!“, rief Frau Wittinghoff, „hier ist jemand, der dich sprechen möchte.“
Für Leonie hörte sich der Name fremd an, so wie Frau Wittinghoff ihn aussprach, mit langen Vokalen. In England werden sie ihn sicherlich Tom nennen, dachte sie. Sie streckte ihm den Brief entgegen. „Der gehört Ihnen.“
„Der Brief, woher haben Sie den Brief?“. Thomas starrte Leonie an. „Und ich habe geglaubt, meine Mutter … Sie versteht einfach nicht, warum es so wichtig für mich war, nach England zu gehen“.
„Ich weiß“, erwiderte Leonie. „Aber Sie hätten Ihre Mutter anrufen können.“
„Das habe ich versucht, aber sie hat jedes Mal gleich wieder aufgelegt“, sagte Thomas. Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: „Einen Brief zu ignorieren, ist schwieriger.“
„Das stimmt.“ Leonie lächelte. „Aber nun sind Sie ja da.“
„Ja, jetzt bin ich da.“ Auch Thomas begann zu lächeln. „Wollen Sie nicht hereinkommen?“
Leonie zögerte. „Ich habe noch etwas zu erledigen“, erwiderte sie dann.
„Schade.“ Thomas drehte den Brief in seiner Hand. „Aber Sie haben ja meine Adresse. Vielleicht schreiben Sie mir mal.“
„Vielleicht“, sagte Leonie.
Leonie fand den Briefkasten auf dem Carls Name stand. Sie schaute auf und ließ ihren Blick über die Fassade des Hauses gleiten. Dann nahm sie den Brief aus ihrer Jackentasche und warf ihn ein. Leonie atmete tief durch. Die Luft roch nach Schnee.
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