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Odessa-Texte

Vor der dunklen Unterführung steht eine alte Blumenverkäuferin. Sie verkauft jeden Abend eine Rose an einen jungen Mann mit Laptoptasche und Heineken-Bier in der Hand. Der junge Mann mit der Laptoptasche und dem Heineken-Bier verschenkt die Rose jeden Abend an eine rothaarige Schönheit mit Namen Larissa.
Die rothaarige Schönheit mit Namen Larissa stellt die Rose jeden Abend zu den anderen Rosen. Mittlerweile steht ein großer Strauß auf dem Tisch, die ersten Blütenblätter fallen herunter. Das nahe Verblühen vor Augen, fangen die Rosen zu tanzen und leise zu singen an. Sie gedenken der alten Blumenverkäuferin vor der dunklen Unterführung,dem jungen Mann mit der Laptoptasche und dem Heineken-Bier und der rothaarigen Schönheit mit Namen Larissa.

Die Dinge gehen kaputt, geraten aus den Fugen und beginnen zu tanzen. Das ist Odessa.

Tristesse in Odessa-Ost, 1

Ich betrachtete den Himmel, er erinnerte an die runzelige Haut der alten Käseverkäuferin von gegenüber. »Scheiße!«, dachte ich, auch dieser Tag will überstanden werden. Ludmilla von gegenüber hatte Männerbesuch, die schmutzig-rosafarbenen Nylonvorhänge hingen noch vor dem Fenster wie die langen Unterhosen meines Opas von der Wäscheleine. Zum Kiosk, erstmal zum Kiosk, ein Bier und eine Papirossi. So ging’s fürs erste, scheiß Langeweile …Seit Oleg im Knast ist, vergeht die Zeit nicht mehr. Hätt ich ihn bloß nicht verpfiffen, diesen Sausack. Beim Arsch von Ludmilla, das war ein Fehler, wegen so einer Kleinigkeit. »Noch’n Bier, Alte!« Dann leg ich mich wieder hin und warte, bis Ludmilla fertig ist.

Ein Jahr später stehen er, Oleg und Ludmilla am gleichen Kiosk. Ludmilla ist schwanger, die Männer bohren in der Nase.

Im Park

Das Zuckerstückchen, die Kalynablüte, das Glöckchen mit Gold beschlagen,die Zierde der Nation, die Herrlichkeit und das Wundervolle vor dem Herrn, die Morgensonne und abendliche Vollkommenheit, die strahlende Zukunft, der Blütenstrauß nächtlicher Träumereien geht mit dem verrotzten, abgefuckten, nach Bier und Wodka stinkenden, mit Blut unterlaufenen Augen und eingetretener Nase verunzierten, übel beleumundeten, vernarbten Tunichgut und Leichtfuß knutschend durch den Park.
Das Volk schreit:
– Es lebe die Ka-Pe-De-Es-U
– Ruhm dem leninistischen Zentralkomitee
– Es lebe die Einheit von Volk und Partei
– Hoch Josefle Wissarionowitsch!!

Oder wahlweise auch: Ruhm! Ruhm! Hurra!!

Schön wäre, wenn sich keiner drum kümmern würde.

Der alte Moskowitsch

Der alte Moskowitsch saß früh in der Sonne und dachte an bessere Zeiten, irgendwie entspanntere, ruhigere, auch sichere. Die Mädchen hatten kürzere Röcke und die Jungs längere Haare. Als man noch Eckensteher und Tagedieb sein durfte und dem allgemeinen Rattenrennen zurief:
  Ich ziehe es vor, es lieber nicht zu tun.
  So tüddelte der alte Moskowitsch vor sich hin, als seine alte Frau ihm zurief:
  Verdammte Scheiße, wo hast du meinen Morgenmantel gelassen?
  Bring mal die Zeitung rein!
  Und mach mal Kaffee, oder kannste das auch nicht?
  Und etwas leiser:
  Ich weiß gar nicht, warum du immer so depressiv bist.

Risse 22


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