Sie hing dazwischen. Weder tat sich ein Himmel auf, noch konnte sie Boden unter die Füße bekommen. Der Schlag hatte sie bettlägerig gemacht.
Hochbetagt und auf zwei Beinen war sie hier eingezogen, freiwillig. Frieda erreichte den Durchhalterekord. In zwölf Jahren hatte sie viele Bewohner durch die automatische Flügeltür kommen sehen. Es kamen nur so viele, wie durch den Hinterausgang hinausgetragen wurden. Nur die Fluktuation in einem Hospiz war größer. Noch gut zu Fuß, hatte Frieda heimlich an den Benutzertagen die Hintertür beobachtet. Sie wollte sich daran gewöhnen. Frieda hatte verpasst, sich die Hintertür aufzulassen. Jetzt konnte sie nur noch die Augen ansteuern.
Frieda hatte immer mitten im Leben gestanden, meist zwischen den Haltebügeln ihrer Schubkarre. Für den Bauernhof hatte Frieda der anderen sogar den Mann ausgespannt. Der hatte Frieda für sie beide arbeiten lassen. Frieda hatte das nicht gestört. So brauchte sie seine Kräfte nicht auslaufen sehen, wenn er soff. Er war nicht lange bei ihr geblieben. Der schlaffe Schlauch hatte ausgetrunken. Mit Friedas Mann wurden Kummer und Wut seiner Kinderlosigkeit begraben. Selbst mit zwei Ehefrauen und einigen Gespielinnen hatte er nicht einen Erben zeugen können. Geblieben war ein angenommener Sohn. Der war dem Vater ein guter Lehrjunge. Er überflügelte ihn sogar in einem Punkt. Der Sohn blieb bei dem, was er besser konnte. Er soff ausschließlich. Frieda arbeite also weiter für zwei. Als der erwachsene Sohn wieder einnässte, griff Frieda endlich durch. Sie weigerte sich, seine Hosen zu waschen. Als der Gestank die Wohnung verpestete, jagte sie den Nichtsnutz zum Wohnen in den Stall.
Der reichte ihm für seine Zwecke. Er richtete sich in der Futterkammer ein. Die Hosen wechselte er einfach nicht mehr. Die Hilfsmutter stellte ihm das Essen hin, wenn sie die Katzen füttern ging. Für das Trinken sorgte der Leihsohn selbst. Der Staat gab ihm das Geld dafür. In der Schule konnten sie ihm das Lesen und Schreiben nicht beibringen. Frieda fühlte sich dafür nicht zuständig. So war der Junge ohne Bildung geblieben und der Mann nicht vermittelbar geworden.
Der Sohn war still, irgendwie auch bescheiden, das war das Gute an ihm.
Mit der Rente trat Frieda kürzer. Nach der Wende wurden Selbstversorger ausgelacht. Die Menschen standen plötzlich auf bunten Plastekram mit fertigen Speisen drin. Friedas Viehbestand schwand ebenso wie die bestellte Gartenfläche. Eine beunruhigende Ruhe zog auf den Hof. Inmitten des Großraumes hatte Frieda auf einmal das Gefühl des Sich- Verlierens. Frieda zweifelte das erste Mal in ihrem Leben. Mit den Zweifeln starb ein Huhn nach dem anderen. Als das letzte Huhn tot war, starb auch Friedas Hof. Kein Hühnergackern,
kein Hahn schrie mehr nach Frieda. Frieda wollte keine Totenstille. Erst sang sie laut, dann fing sie an, mit sich zu sprechen, viele Dialoge mit einer unbekannten Frau. In ihnen entdeckte sie ein Verlangen, das sie nicht gekannt hatte. Es musste in ihr eingesperrt gewesen sein. Plötzlich hatte sie Lust auf Freundinnen, Tanzen, Beten, Kino und überhaupt auf alles, außer auf Hof. Sie machte mobil. Den Traktor hatte sie gegen ein Auto getauscht. Sie blieb der festen Überzeugung, dabei Gewinn gemacht zu haben. Frieda erfand sich Tag für Tag neu, suchte den eigenen Stil und zeigte Geschmack. Die neue Frieda hatte sich vor die alte gedrängelt. Sie trug Locken und gönnte sich regelmäßige kosmetische Behandlungen. Frieda besuchte Theater und Kulturveranstaltungen der Provinz. Sie übte sich darin, eine Meinung zu haben. Die neue Frieda hatte bei den Gruppen, in die sie sich stellen wollte, Zustimmung, aber keinen Einlass gefunden. Noch einmal hatte Frieda angefangen zu zweifeln. Es folgten wieder Dialoge mit sich selbst. Schließlich hatte Frieda ihren Stolz und die Tasche genommen, um in der Seniorenresidenz den Anschluss einzukaufen. Hier gab es von allem, was sie gewollt und nicht gewollt hatte. Was sollte es, ihre Hühner waren ihr auch weggestorben …
Und nun lag sie seit drei Jahren in diesem Bett. Der Schlaganfall hatte ihre Sprache, die Fähigkeit zu schlucken und sich zu bewegen geraubt. Mit wachen Sinnen und taubem Körper musste Frieda die Welt an sich geschehen lassen. Das Leben hatte ihr die Haltebügel der Schubkarre geklaut. Sie konnte nichts mehr bewegen, verschieben. Wälzen, alles hin und her wälzen, in Bauch und Kopf, das blieb ihr Tagewerk. Im Bauch Ausgesuchtes vom Pflegepersonal, durch eine Magensonde hineingeschickt. Wie oft stellte sich Frieda ihr Lieblingsgericht „Himmel und Erde“ auf der Zunge vor. Manchmal gönnte ihr die Erinnerung den Geschmack der süßen Herbe gekochter Kartoffeln und Birnen mit angebratenem Speckwürfeln darin.
Das im Kopf blieb der ewig gleiche eigene Brei. Dem Sohn hatte sie die Buchsen nicht gewaschen. Er würde nicht kommen. Denen sie den Hof überschrieben hatte, die redeten sich mit Arbeit heraus. Sie kamen anfangs. Mit Friedas Verfall verfielen auch die Besuche. Keiner wollte durch die gläserne Frieda in die eigene Zukunft sehen.
Frieda dämmerte zwischen den Welten. War sie wach, durchlebte sie ihr langes Leben hinter der Schubkarre mit dem Futter oder Mist darin. Die Bilder waren eintönig. Bunt wurden sie hinter dem Hof, den sie so spät verlassen hatte. Wenn Frieda träumte, dann vom Birnenbaum am Haus. Sie hing an ihm und war so frei.
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