I can’t for the life of me
Remember a sadder day
I know they say let it be
But it just don’t work out that way
And the course of the lifetime runs
Over and over again
No I would not give you false hope
On this strange and mournful day
But the mother and child reunion
Is only a motion away
Paul Simon „Mother and child reunion“
Noch immer fuhr ich hin und wieder die Eltern besuchen. Nur alle paar Jahre einmal, aber ich kehrte zurück in die Stadt am Wasser, in die Stadt meiner Kindheit. Thomas begleitete mich schon seit Langem nicht mehr, und die Kinder waren nie hier gewesen. Warum ich selbst noch immer hinfuhr, kann ich nicht sagen. Vielleicht weil es mir nichts mehr ausmachte. Vielleicht weil ich die Gewissheit, dass mir all das nichts mehr anhaben konnte, von Zeit zu Zeit auffrischen musste. Nach dem Ende der Schule war ich aus der kleinen Stadt fort in eine größere gezogen, hatte irgendwann mein Studium beendet und zu arbeiten begonnen. Jetzt hatte ich Thomas und die Kinder.
Vom Bahnhof aus nahm ich ein Taxi, das mich auf den alten Wegen an die alten Orte führte. Der Vater fuhr kaum noch mit dem Auto, wollte es allerdings nicht verkaufen, sondern hielt es für Notfälle bereit. Mein Besuch war kein solcher Notfall. Das sah ich ein. So fuhr ich mit dem Taxi und erinnerte mich daran, wie ich dieselben Straßen früher mit dem Fahrrad hinauf- und hinabgefahren war.
Ich sah sie in dem Augenblick, als das Taxi in die Straße einbog, in der das Elternhaus stand. Zusammengekauert hockte sie in der Bushaltestelle. Ihr leerer auf das Sicherheitsglas fixierter Blick kroch durch die Scheibe zu mir. Dieses jammervolle Geschöpf jagte mir einen Schrecken ein. Sie war allein, und es war das allererste Mal, dass ich sie ohne ihre Mutter sah. Das MUT-Team, das Mutter-und-Tochter-Team, hatten wir sie genannt. Ein Meter sechzig, korpulent, ein erwachsenes Kind, so hatte ich sie in Erinnerung. Das Kind ihrer Mutter, von deren Seite sie nie wich. Weder kannte ich ihren Namen noch wusste ich, was für eine Behinderung sie tatsächlich hatte. Immer waren sie zu zweit unterwegs gewesen. An den Armen untergehakt, die Mutter kaum größer als die Tochter und ebenso rundlich, gingen sie schunkelnd bis wankend in gleichmäßigem Rhythmus von hier nach da, als sei ihre Mission, die kleine Stadt so häufig wie möglich zu durchwandern. Sie machten nie den Eindruck, ein festes Ziel vor Augen zu haben. Beide mit einem freundlichen, geradeaus gerichteten Lächeln, das bereit schien, der Welt zu begegnen.
An der Bushaltestelle, wo die Tochter aussah, als warte sie viel mehr auf die Mutter als auf den Bus, waren wir längst vorübergefahren, doch mein Schrecken wirkte nach, und so sank ich wie sie zusammen. Die Leere ihrer Augen war mir direkt ins Gemüt getropft.
Das Taxi hielt vor dem Elternhaus. Als die Türen klappten, sah die Mutter kurz von der Erde hoch, auf die sie zwischen den Bohnen mit einer Hacke einschlug, nickte mir zu und setzte ihre Arbeit fort. Mein Blick fiel auf den See, auf dem ich als Kind beinahe täglich gerudert war, und mir gelang ein Lächeln. Während ich vor dem Haus wartete, spülte die Mutter in der Regentonne die verklebte Erde von der Hacke, räumte das Gerät in den Schuppen und kam zu mir herüber. Sie gab mir schnell, so, als ob ich von uns beiden diejenige wäre, an deren Kleidung Erde und Spinnweben hingen, und als ob sie vermeiden wollte, sich an mir schmutzig zu machen, die Hand. Als wir über die Türschwelle traten, sagte sie „Zieh die Schuhe aus, der Boden ist sehr feucht, der Dreck der Schuhsohlen kriecht rasch in alle Ecken. Jetzt mit dem Garten habe ich kaum Zeit zum Putzen.“ Und sie sagte: „Papa ist Angeln, hoffentlich kommt er bald zurück, in einer halben Stunde gibt es Essen.“
Ich trug meine Tasche hinauf in das Zimmer, das einmal mein Kinderzimmer gewesen war. Heute Gästezimmer. Das Gastsein befremdete mich. Ich betrachtete die neue Liege, die ich doch bei meinen vorherigen Besuchen gesehen hatte und die inzwischen nicht mehr neu war, und hätte mich gern in mein altes Bett gelegt. Mit diesem Anflug von Nostalgie überraschte ich mich ein bisschen. Als Kind aber hatte ich gern dort gelegen und auf den See hinausgeschaut. Ich sah durchs Fenster, um vielleicht den Vater in der Ferne auf dem Wasser zu erkennen. Trotz seiner 70 Jahre fuhr er noch immer mit dem Boot hinaus. Die Hüften schmerzten ihn, und auch wenn er sich das Autofahren nicht mehr zutraute, konnte er nicht davon lassen, bei Wind und Wetter und Tag und Nacht aufs Wasser hinauszufahren. Bis zum Bootsliegeplatz nahm er das Fahrrad, an dessen Mittelstange er die Angelruten festschnürte. Mit der einen Hand hielt er den Lenker, mit der anderen balancierte er Kescher und Eimer. Allein, dass er unfallfrei bis zum Boot kam, war ein kleines Wunder. „Ein vernunftbegabtes Wesen ist er nicht, nie gewesen“, pflegte die Mutter zu sagen.
Ich konnte ihn jedoch nirgends entdecken. Stattdessen fiel mein Blick auf die Badestelle am Schwalbenberg, wo wir in dem Jahr, als die Hitze des Sommers schon im Mai begann, fast täglich waren. Wir, das waren Ralf, Peter, Steffi und ich. Wir waren fünfzehn und immer zu viert unterwegs.
Es war ein heißer Tag, wegen der großen Hitze sogar ein schulfreier. Peter und Ralf ließen die Räder fallen und stürmten sofort ins Wasser. Steffi verschwand in die Büsche. Ich verschloss die Räder. Als ich zum Wasser ging, stand das MUT-Team vor mir, in Badeanzügen, die einst grellbunt gewesen sein mussten und nun stark verblichen waren. Diese beiden Frauen, die sich sonst in bis zu den Schuhen reichende Mäntel hüllten, standen plötzlich fast nackt da. Die dicken, weißlichen Beine und Arme vom Elastan der Anzüge abgeschnürt, der Bauch doppelfaltig gewölbt. Ein bizarrer Anblick, die beiden jedoch waren ausgelassen und schienen glücklich. Beide gingen nur knietief ins Wasser hinein, spritzten ein wenig um sich, bedächtig, ganz als wollten sie vermeiden, mit dem kalten Wasser einen Schrecken auf der Haut der anderen zu hinterlassen. Dazu kreischten sie und irgendwann, wie auf ein geheimes Zeichen hin liefen sie gleichzeitig aus dem Wasser, und die Mutter wickelte den Körper der Tochter trotz der Hitze eilig in ein Badetuch. Das Lächeln der Tochter wurde immer froher, während ihre Mutter sie abrubbelte, und bald begannen sie, gemeinsam zu kichern. Ich wartete damals, bis das MUT-Team, das bald seine Sachen packte, fortgegangen war, um selbst ins Wasser zu steigen.
Ich hörte, wie die Haustür sich öffnete und die Mutter laut zu schimpfen begann. Was sie sagte, verstand ich nicht, aber offenbar verstand der Vater. Er machte auf dem Hacken kehrt. Ich stieg die Treppe hinunter und sah noch, wie er nach den frisch gefangenen Fischen griff, bevor er die Tür von außen schloss und dabei ebenso viel Lärm verursachte wie die Mutter zuvor mit ihrem Geschimpfe. Der Vater umarmte mich. Bei der Umarmung verfingen sich einige der glänzenden, rauen Fischschuppen in meinem Pullover. Wir lachten gemeinsam darüber. „Jetzt bist du wieder eine von uns“, sagte er. Ich bemühte mich, ihm nicht zu zeigen, dass ich über diesen Satz erschrak.
„Kommt endlich zu Tisch!“, rettete mich die Mutter. Sie konnte hervorragend kochen. Selbst an Wochentagen gab es aufwendige Gerichte, Rippenbraten mit Rotkohl und Klößen, Kaninchenkeule mit Spargel, gebratener Zander mit Speckkartoffeln. Wir saßen am Tisch, ganz so wie es immer gewesen war. Ich auf meinem Kinderplatz mit dem Rücken zum Fenster, der Vater rechts, die Mutter links von mir. Auf dem Tisch eine Pfanne mit Gulasch. Ich kaute mich an einem Rindfleischwürfel fest, entschuldigte mich, wie ich es als Kind immer getan hatte, um auf die Toilette zu gehen, wo ich den zähgekauten Fleischbrocken in die Kloschüssel spuckte. Ich setzte mich zurück an den Tisch und spülte den säuerlichen Geschmack des Fleisches mit einem Schluck Wein hinunter. Die Mutter und der Vater sagten nichts, warfen sich einvernehmliche Blicke zu, die mich seit Jahren nicht mehr berührten. An denen sie aber offenbar festhielten, weil es ihnen half, sich an die Illusion zu klammern, dass sie darüber verfügen konnten, was zu sein hatte und was nicht sein durfte.
Ich brach das Schweigen, das mich nicht mehr brach und fragte, ob sie etwas wüssten über das MUT-Team. „Die Mutter ist tot, vor einigen Monaten verstorben. Herzinfarkt. Sie kam nicht mehr lebendig bis ins Krankenhaus. Es kann einem leid tun um das Mädchen, so ganz allein. Ein jammervolles Geschöpf.“ Ich war überrascht von ihrem Mitgefühl. Ich war ebenfalls überrascht und wohl auch ein wenig erschrocken darüber, dass sie sie „jammervolles Geschöpf“ genannt hatte, und so dieselben Worte benutzte, die mir durch den Kopf gegangen waren. Während ich noch meiner Verwunderung nachhing, begann der Vater von etwas mir Unbekanntem zu reden. Früher das Zeichen dafür, dass ich mich herauszuhalten hatte, herauszuhalten aus dem, was Mutter und Vater zu besprechen hatten. Wie als Kind begann ich, meine Gedanken schweifen zu lassen, die noch immer beim MUT-Team waren. Einmal war ich ihm beim Einkaufen begegnet. Eine Tafel Schokolade wollte ich mir im Laden neben der Bibliothek kaufen, daran erinnerte ich mich erstaunlich genau. Als ich den Laden betrat, sah ich die beiden sofort, wie sie in tänzerischem Gleichschritt an den Regalen entlangschoben, die Tochter untergehakt unter den linken Arm ihrer Mutter, der es dennoch gelang, den Einkaufswagen geradeaus vor sich herzuschieben. Synchron drehten sich Mutter und Tochter jeweils einem Regal zu, die Mutter streckte ihren freien rechten Arm nach einer Schachtel oder einer Flasche oder einer Dose aus, überreichte sie der Tochter in deren freien linken Arm wie ein Geschenk, und diese platzierte dann die Schachtel oder Flasche oder Dose mit liebevoller Behutsamkeit, die kaum zu ihren sonstigen roboterartigen Bewegungen passen wollte, im Einkaufswagen. Mit prüfendem Blick begutachtete sie jedes Stück, das die Mutter ihr gab und legte es schließlich zufrieden in den Wagen, ohne je auch nur ein einziges auszusortieren.
Doch dann geschah etwas, womit beim Anblick dieser perfekten Choreographie nicht zu rechnen gewesen war. Der Einkaufswagen geriet ins Rollen. Das war so überraschend, da die Harmonie der beiden so unerschütterlich wirkte, dass selbst einem seelenlosen Einkaufswagen nicht zuzutrauen war, sich ihr zu widersetzen. Die Augen der Tochter weiteten sich panikartig. Die Mutter stieß einen kehligen Schrei aus, als die Tochter ihre behutsame, aber mechanische Bewegung des Armes fortsetzte und die Flasche Milch auf dem gefliesten Fußboden zerschellte, die weiße Flüssigkeit und die braunen Scherben in alle Richtungen spritzten.
Schreie und Tränen, auf dem Fußboden das flüssige Scherbenchaos. Tochter und Mutter starrten sich an, als seien sie sich plötzlich fremd geworden. Die beiden waren außer sich, und die Umstehenden vermieden, ins Geschehen einzugreifen, weder um zu helfen oder die beiden zu beruhigen, noch um die Menschenmenge, die sich zum Schauen und Staunen versammelte, zu zerschlagen. Nur eine Verkäuferin traute sich, in den unsichtbaren Kreis einzudringen, den Mutter und Tochter formten. In dem Augenblick jedoch, in dem die Verkäuferin auf sie zuging, sie beruhigen wollte, fanden Mutter und Tochter offenbar wieder zueinander, wurden erneut zum MUT-Team und verbündeten sich gegen die Verkäuferin. Auf einmal schienen sie wieder gefasst, griffen mechanisch nach der Hand der anderen und bauten sich vor der Verkäuferin auf, deren Courage zu Hilflosigkeit wurde und die sich mit den Worten „Ich hole eine Kehrschaufel und einen Lappen …“ aus der Affäre zog. Bevor die Verkäuferin mit Eimer und Lappen zurückgekehrt war, hatte das MUT-Team den Laden bereits verlassen. Selbstbewusst, aufrecht und mit einem freundlichen Lächeln, aber doch, als wären sie als Sieger aus einer Schlacht hervorgegangen, waren sie durch das Spalier unserer erstaunten Blicke zur Ladentür hinausgeschritten.
„Du sagst ja gar nichts. Lässt uns für die ganze Unterhaltung sorgen. Los, erzähl schon, was die Kinder treiben und dieser Sachse“, beklagte sich der Vater.
„Thomas.“ Ich machte mir nicht die Mühe, den Vater daran zu erinnern, dass Thomas aus Thüringen kam. „Es geht ihnen gut. Sie … sie lassen grüßen.“
Wir alle drei wussten, dass dieser Satz gelogen war. Vielleicht hatte die Sehnsucht, es könne so sein, ihn mir eingeflüstert. Der Vater und die Mutter nickten einen angedeuteten Dank. Damit war das Thema erledigt. Alles Verfängliche hatten wir abgearbeitet, ohne uns einer schmerzenden Ehrlichkeit auszusetzen, und so entspannten wir uns. Ich fragte den Vater nach den Fischen, die Mutter nach dem Garten. Es wurde ein ruhiger Tag, und auch die kommenden meisterten wir, ohne aneinander anzuecken.
Am vierten Tag nahm ich in das Taxi, das mich zum Bahnhof brachte. Von dort aus würde ich in mein Leben zurückfahren. Der Vater trug meinen Koffer zum Wagen, mit beschwingter Leichtigkeit, die Mutter winkte. Ich freute mich auf die Heimreise. Es war uns also gelungen, einen gemeinsamen Moment der Zufriedenheit zu finden. Dass es der Moment meiner Abreise war, störte mich nicht.
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