Der Wind wird Meer und ich muss raus aus den Schuhen. Gestern noch hatte M dieses ausdrucksstarke Gesicht und es lag mir nahe, es für Hoffnung zu halten. Das war, nachdem die Straßenbahn zwischen Innenstadt und Werftdreieck entgleistund wie durch ein Wunder jedem der Insassen etwas passiert war. Schon während die Bahn Geschoss wurde, fingen die einen an zu schreien, die anderen zu denken, daran machten sich noch zu benennende Unterschiede fest.
In der Seele des Stadtvolkes rumorte es, der neue Interrimsfahrplan respektierte mehr den Wunsch, Normalität und Regelmäßigkeit noch unter solchen Umständen vorzuspiegeln, die für einen völligen Umbau stehen würden. Immer mehr kurzhaltige Busersatzstrecken, wo vorher in Gleisen alles Grobe lief, und die Feinheiten waren Fußläufigkeiten, deren Umfang man in Minuten runterbrach. Und einer sagte flüchtig: Hier ist alles da, wo es ist, nämlich dort, mindestens gestern noch war dort doch eine Haltestelle. Und da neuerdings so vieles nicht mehr galt, hatte es in der Stadt nun ein geflügeltes Wort mehr und durchaus mehr Hektik.
Überhaupt wurde am Morgen mehr gelaufen, seitdem das so war, Mittelstrecken stellten sich manchen als zumutbar dar, abgeklärt und gezeichnet von obergärigem Humor riefen sich auf den noch leeren Märkten und Plätzen morgens aneinander vorbeilaufende Bekannte flüchtig die neuesten Statusmeldungen zu: ihre Meinungen über die Verkehrsausfälle und wie damit am pragmatischsten umzugehen sei: Alle, die so eilten und riefen, hatten bereits einen Umgang gefunden und Spaß an ihm. Viele zog es zum Bahnhof, dem einzig verbliebenen Kristallisationspunkt für Grobversorgung mit Mobilität. Morgens ist noch nicht so viel los, wir fühlen uns versorgt, rief ich, und musste befürchten, dass das in der Eile überhört wurde. Wie hieß er noch mal, dem ich das eben zugerufen hatte? Mist, ich habs vergessen. Auf dem Weg zur S-Bahn.
Immer schon verband die Stadt wesentliche Unterschiede, indem sie weit Auseinanderliegendes formal klammerte. Das machte Verkehr notwendiger als anderswo.
Schon in der Straße am Kopfbahnhof auf der Mittelmole hatte ich diese entsetzliche Lust der Füße auf weichen Sand unter sich in mir. Eine Lust, die sich entlang einer Kette erster, zweiter und dritter Indizien von Strandnähe zusehends steigerte, während die Wegstrecke dahin mit dieser Steigerung nicht Schritt hielt, weil die Massen so dröge dahinschlenderten. Jedes Mal in dieser Entropie entgleisten mir Gesichtszüge und Nerven und mein Zeitgefühl spielte verrückt.
Eine Fähre fährt gemächlich ein, eine Möwe stört dies kaum bis gar nicht. Immer sieht es merkwürdig aus, wenn flach über den Strand geblickt diese großen Pötte, gleich zehnstöckigen Häusern, ungehindert ins Festland eindringen, ohne dass die Landschaft Falten wirft und ohne dass dem Pott etwas passiert. Die Schiffslenker sind Dänen. Ich denke mir einen Zusammenhang.
Flüssig ist der Wind zu nennen, der zum Winken gestreckte Arme umspielt, von einer imitierten Ahnung von Flüssigkeit animiert sind die zum Winken ausgestreckten Arme der Ausflügler auf den kleinen Fischerbooten, wahlweise klimatisierten Touristenklippern. Wer meint, es genau zu nehmen, hat angesichts dieses Spektakels zu nuancieren, was ihn an den Massen anwidert.
Die Steilvorlage war, dass neulich nördlich der Mittelmole, zwischen Altem und Neuem Strom, zwei übermütig schaukelnde Touristenboote mit winkenden Massen an Bord die Distanz zueinander nicht fanden und Leck schlugen, tief ist es nicht, nur zwei Meter, und dass wie durch ein Wunder denen an Land, die solche Boote aus Gründen eh nicht betreten, mehr passiert ist als den Passagieren, man sah sich bestätigt, und daher hatte es in der Stadt nun ein zweites geflügeltes Wort mehr.
Aber immer schon musste die Stadt ihre wesentlichen Widersprüche überbrücken, indem sie weit Auseinanderliegendes formal klammerte, womit Verkehr notwendiger als anderswo wurde. Alle zusammengehörig zu nennen, erforderte, ihr Begegnen verkehrstechnisch wahrscheinlich zu machen. Daher waren hier alle unterwegs.
Den Bürgermeister hat es neulich vom teuren Herrenfahrrad geholt, bergab die Straße an der Faulen Grube hat ihm das vernachlässigte Radwegsanierungsprogramm Östliche Altstadt zwar, zwecks Helm, nicht die Schädeldecke gespalten, aber zumindest das rechte Schlüsselbein rausgehebelt. Die Zeitung referierte Ersthelfer, die zur Beschreibung des abstehenden Knochens die Vokabel ‚senkrecht‘ repetierten.
Endlich in der Straße auf der linken Seite des Alten Stroms hinauf in Richtung Strand hatte ich in mir immer noch diese süßlich-schmerzhafte Lust der Füße auf weichen Sand unter sich. Eine Lust, die sich entlang der aufgrund meines gesprengten Zeitgefühls endlos werdenden Kette vierter, fünfter und sechster Indizien von Strandnähe zusehends steigerte, während die zur Lebensaufgabe sich umgestaltende Wegstrecke dahin mit dieser Steigerung nicht Schritt hielt, weil die Massen miteinander Schritt hielten. Jedes Mal in der Hitze dieser entropischen Zumutung entgleisten mir Gesichtszüge und Nerven und mein implodiertes Zeitgefühl wimmert vor Durst und litt unter der Schattenlosigkeit, die sich gleich am Strand schon in Befreiung umschreiben würde. Darin lag ja meine Schizophrenie, sagte M.
Und überhaupt wurde trotz Hitze mehr gelaufen, und als Ausgleich mehr ans Meer gefahren, die Grobversorgung dahin stand ja noch und waren nicht wir heute auch dort, wo das Meer ‚hier‘ ist? Ms gestriges Straßenbahnerlebnis schont uns auch heute nicht. Immer ist alles voll. Voll ist alles immer. Wo? Hier. Warum ist alles voll hier? Hier ist es schön. Ach so. Wusst ich’s doch.
Den Bausenator von der Grünen Partei hat es neulich vom Hollandrad geholt, als er pflichtbewusst und schmerzresistent über das historische Kopfsteinpflaster schepperte, gegen dessen Modernisierung er immer historische bis kulturkonservative Gründe bemühte. Die Zeitung zitierte mehr Augenzeugen denn wirkliche Ersthelfer, die zur Beschreibung des sturzbedingt verdrehten Unterarmes die Vokabel ‚Uhrzeigersinn‘ verwendeten und dabei wohl auch kicherten.
Der Wind wird Meer und ich will endlich raus aus den Schuhen. Auch eben noch am letzten Kopfbahnhof vor dem Meer, diesem Blinddarm der Stadt, hatte M dieses ausdrucksstarke Gesicht und es lag mir nahe, es für eine neue Qualität zu halten. Das war, nachdem die Straßenbahn gestern zwischen Innenstadt und Werftdreieck aufgrund alter Verträge mit dem Gott ‚Hektik‘ oder seiner kleinen Schwester namens ‚Instandsetzungsarbeiten‘ entgleisen musste und wie durch ein Wunder zumindest jedem der sensibleren Insassen etwas geschehen ist, was lange schon undenkbar gewesen war. Schon während die Bahn Geschoss wurde, fing M an, sich für das Denken zu entscheiden, daran machte sich ein Unterschied fest, den M im Laufe der Zeit auch profilieren würde, um sich von mir abzugrenzen.
In den Blogs, wo der besonders links sich gebende Teil des Stadtvolkes das Rumoren seines Seelchens kultivierte, wurde in der lauen Nacht vor dem heutigen heißen Tag über den Interrimsfahrplan gestritten, der spiegele ja wohl eher den Wunsch nach Normalität, nicht aber echte Normalität. Und überhaupt sei der ganze Schienenersatzverkehr schlampig gearbeitet, nirgendwo sei der Fahrplan plakatiert, nur im Netz finde man das terminierte Patchwork, bei der Hitze draußen müsse man Wartezeiten in Kauf nehmen, wo vorher alles Grobe in Gleisen gut gelaufen sei, liefe man nun verpassten Gleisersatz-Fahrzeugen hinterher, und das bei der Hitze tagsüber, und die sonst locker fußläufig von festen Haltepunkten aus in Minuten erreichbaren Feinheiten wachsen sich nun zu Fernzielen aus. Keine Wegstreckenverlängerung, die im Übertreibungsgestus der nächtlichen Blogs und Tweets nicht auf Stunden hochgeredet wurde, wo man vorher damit kokettierte, alles in Minuten runterbrechen zu können. Und einer schrieb flüchtig, es komme ihm so vor, als sei: Hier nicht mehr alles da, wo es war, nämlich dort, mindestens gestern noch war dort doch eine Haltestelle. Und da neuerdings so vieles nicht mehr galt, hatte es in der Stadt nun einiges an geflügelten Worten mehr und durchaus noch viel mehr Hektik.
Das Meer man kann es lange ahnen. Hier ist es schön. Hast du das schon vergessen? Diese Undurchdringlichkeit könnte einen das fast vergessen lassen. Das bleibt also, wenn Hektik zum Einheitsbedarf wird. Überhaupt wurde sonst aber mehr gelaufen, seitdem das so war. Im Gewühl sehen wir dann tatsächlich mehrere Bekannte. Wir kommen nicht an sie ran, einfach zu viele Leute. Flüchtig rufen wir uns die neuesten Statusmeldungen zu: Was wir von den in letzter Zeit sich merkwürdigerweise massiv häufenden Verkehrsunfällen und den damit verbundenen Verkehrsausfällen oder umgekehrt den Ausfällen und den folgenden Unfällen hielten und dass die pragmatischste Art damit umzugehen wohl sei, daran einen gewissen Spaß zu finden, einen obergärigen Humor, einen angehopft wirkenden Wortwitz, einen prickelnden Zynismus, eine Gelassenheit vom Zuschnitt der lokalen Biersorte, auf die man sich für nächste Woche irgendwann im Freigarten in der Innenstadt verabreden könne, aber ich musste befürchten, was ich rief, war wieder in der Eile überhört worden und vom Raunen der puffernden Massen geschluckt. Was willst du dich mit denen treffen? Brauchst ja nicht mitzukommen. Ich denke jetzt anders über das Leben. Brauchst ja nicht mitzukommen. Ich meine wegen der Straßenbahn gestern. Naja du brauchst ja nicht mitzukommen.
Die bekannte Sozialsenatorin von den Sozialisten hat es neulich spektakulär vom 26-Zoll Damenfahrrad geholt, als sie wie gewohnt durch die Fußgängerzone bretterte, die Fußgänger ignorierend, legte sich im morgendlichen Sommerwind ein Klappschild, das vor einer Bäckerei für die Spartüte warb, auf die Seite, gerade richtig im Moment einer Unachtsamkeit. Ein Fernsehsender wusste umgehend Bildeindrücke zu vermitteln und konnte, noch während die Ersthelfer ersthalfen, vom Schreck überwältigte Augenzeugen für sich sprechen lassen, die zur Verbildlichung der zahnlosen Senatorin die Vokabeln ‚kein‘, ‚Zahn‘, ‚mehr‘, ‚in‘, ‚der‘ und ‚Fresse‘ benutzten. Woraus speisten sich neuerdings diese ganzen Ausfälle?
Ich meine, wegen der Straßenbahn gestern. Na du brauchst ja nicht mitzukommen, wenn du neuerdings Angst hast, aus dem Haus zu gehen. Hat M nicht, sagt M: Hab ich nicht. Wie wären wir sonst zusammen hierher gekommen, M mit mir, fragt M: Wie wäre ich sonst mit dir hierher gekommen. An den Strand, fragt M. Uns hatte es wie viele zum Bahnhof gezogen, dem einzig verbliebenen Kristallisationspunkt für Grobversorgung mit Mobilität. Nach uns die Sintflut, mag doch nach uns alles zusammenbrechen, wir sind hier, wir sind am Strand, wir sind der Stadt entflohen, das war die Hoffnung, die hier tausende hatten. Wir sind hier. Warum? Hier ist es schön. Wir sind versorgt, dachte ich, und musste befürchten, dass ich das in meiner innerlichen Eile und Ungehaltenheit selber überhören könnte. Immer schon machte die Struktur dieser Stadt Verkehr notwendiger als anderswo. Was ist, wenn wirklich keine S-Bahn zurückgeht? Da müssen wir hier bleiben. Hier ist es doch schön. Hier bliebe es auch dann schön, wenn wir bleiben müssten. Wenn nur die anderen Menschen alle nicht ... Hä, wie wahrscheinlich ist das, dass wir … und die nicht? Wenigstens die Nacht über, sei in bisschen romantisch. Ich kann nicht.
Endlich auf der Einbiegung nach links kurz vor dem Plateau mit dem Strandrestaurant mit dem geschwungenen Dach, das schon halb auf einer Düne stand, verliefen sich die Massen etwas, hier ging es geradeaus zum Molenfeuer, davon erwartete man sich einen Panoramablick auf die Stelle, an der neulich zwei Touristenboote sinken mussten. Eines davon steckt noch. Der schlickige Boden sollte es erst in der Nachsaison freigeben. Bis dahin wird es etwas Öl, Benzin und kaum messbare Prozente von Sonstigem verloren haben.
Mein Furor wird Meer in diesem menschenüberfüllten Transitorium und ich bin jetzt schon mal raus aus den Schuhen, auf Asphalt noch, aber ich halt’s nicht aus und Vorfreude erzwingt es. Zuletzt noch die Straße den Alten Strom rauf hatte M dieses ausdrucksstarke Gesicht und es war eine neue Qualität darin, die mir mit zunehmender Meernähe unheimlicher war als das Dickicht der Massen. Das war, weil Ms Straßenbahn gestern zwischen Innenstadt und Werftdreieck entgleisen sollte, um wie durch ein Wunder jedem der Passagiere etwas geschehen zu lassen, nachdem hier so lange schon nichts mehr geschehen war. Schon während die Bahn eine Flugkurve jenseits der Gleise beschrieb, fing M an, sich für das Denken zu entscheiden, sollte das überlebbar sein, und nach eingetretener Unversehrtheit begann M dann unverzüglich zu denken, das sei der Unterschied zu mir: Ich hätte eben nicht in dieser Bahn gesessen. Aber ich lebe doch auch in dieser Stadt? Ach. Und was weißt du von der Stadt, wenn du nie verunfallt bist? Ich hab die Schuhe aus, sagte ich, hier ist es schön. Mit dir ist es schön hier. Selbst wenn noch Hektik ist. Hierbleiben über Nacht?, griff M einen Gedanken von mir auf, ohne was und nur Sand unter uns? Berechtigte Frage, aber: Seit wann ist ‚uns‘ etwas ‚ohne was‘?
Auch die Nacht war kein Refugium mehr. Den Technikbeauftragten des Bürgermeisteramtes hat es auf dem Weg zum Spätverkauf neulich Nacht aufsehenerregend vom Klappfahrrad geholt. Die Bierflaschen aus dem Körbchen vorne schlugen auf den Beton am Uniplatz und parabelartig hat’s den Technikbeauftragten in den vorgelagerten Scherbenhaufen verbracht. Augenzeugen gab es keine, Ohrenzeugen ließen sich, ob der akustischen Zweiteilung des Sturzgeschehens in Bierflaschen und Fahrradfahrer, zitieren mit den Vokabeln ‚erst BUMMMS‘ und ‚dann AHHHH!‘ Selbst Nächte waren mittlerweile in einer dermaßen hektischen Pinselführung über die Stadtlandschaft geworfen, dass der eine oder andere Kunsthysteriker seine helle Freude daran gehabt hätte, denn Leben in so einer Stadt war unfreiwillig Kunst, aber alles andere als komisch.
Flüssig ist der Wind zu nennen, der langsam mehr wird, je näher der Sand ist, an dessen Kante es anlandet: das Meer. Fremde wie Einheimische weisen sich auf Möwen hin und haben damit gut zu tun, eine Fähre fährt gemächlich ein, um das Molenfeuer tanzen Urlaubermassen, sie erhoffen sich Blicke auf die Stelle nördlich der Mittelmole, wo eines der beiden Schiffe noch bis in die Nachsaison würde stecken bleiben müssen, wenn ich die Weite spüre, sage ich, fühle ich mich grundversorgt. M schweigt.
Nachdem zwischen Innenstadt und Werftdreieck gestern die Straßenbahn entgleiste und M so wie allen anderen etwas passiert ist, ist M heute zwischen Bahnhof und Strand dieses ausdrucksstarke Gesicht bei allen Fragen, die mit mir zu tun hatten, verloren gegangen, und es lag mir nahe, es für das Gegenteil von Hoffnung zu halten, für mich, für die Stadt und hier ist es schön, findest du nicht immer noch auch? Aber nach dem Gesichtsverlust kam nun auch mir die Hektik erstmals persönlich nahe.
Die Nacht drauf, ich war erstmals seit langer Zeit allein, den Interrimsfahrplan und die lästigen Debatten um ihn ignorierend, hatte es mich vom Fahrrad geholt, als ich die unbenutzten Straßenbahngleise im zu kleinen Winkel queren wollte. M kam zurück, um sich an meinem Krankenbett zu sorgen, nur wenige Stunden nach einem mittelgroßen Sagen-wir-Krach. In unserem Verhältnis hatte es nun ein geflügeltes Wort mehr. Mit freudig erregter Stimme gab ich noch leicht geschwächt im Lichte der Bedeutung, die M zukünftig meiner Unversehrtheit beimessen würde, mich als Zeitzeuge meines Fluges und benutzte zur Beschreibung des Settings, auf dem sich mein gigantischer Sturz abgespielt hatte, die Vokabel ‚Straßenbahn‘, um das Maß dessen, was mir passiert war, fühlbar zu machen.
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