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Ogmu findet Zeit

Ein mooriger Tümpel, gesäumt von Kiefern und Birken. Schilfgürtel am Wasserrand, eine Bucht mit Mummeln. Ihre Stiele wiegen sich, ein dichter Unterwasserwald. Von hier aus ist es nicht weit zu Ogmus Lieblingsort, einer Mulde aus modernden Pflanzenresten, fast in der Mitte des Tümpels und an seiner tiefsten Senke.

Für Ogmu bedeutet dieser Ort Schlafstatt, Ausguck, Schutz. Er trottet durch den Tümpelgrund, hangelt sich durch den Mummelwald oder jagt Sonnenstrahlen, die das Wasser in Lichtbändern durchtrennen. Beim Zupacken splittern sie, ein blinkender Sternenhaufen, der ihn umgibt und sich wieder zu Pfeilen und Bändern zusammenfügt. Manchmal erlöschen sie.

Ogmu ruht viel in seiner Mulde. Oft hält er Ausschau in die Welt. Er betrachtet Wälder, Meere, Gebirge und ihre Veränderungen in Größe und Form, in ihrem Wachsen und Verschwinden. Es wimmelt in dieser Welt von Lebewesen, die von den Meeren aufs Land robben, vom Land ins Wasser wandern, sich verformen – Beine zu Flossen, Flossen zu Flügeln, Flügel zu Armen. Die Landbewohner laufen aufrecht oder auf allen Vieren, klettern in Bäumen oder fliegen durch die Luft. Einige Aufrechtgehende bauen Erdhöhlen, Häuser, Burgen, Schlösser und turmartige Gebilde. Oder sie schweben in verschiedenartig geformten Hülsen in Wolkenhöhe, darüber und im All. Die Welt außerhalb seines Tümpels dröhnt von Trommeln, Hämmern, Maschinenrattern, von Kanonendonner, dem Jaulen und Krachen von Bomben und blitzleuchtenden Explosionen.

Mit einem Lidschlag hält Ogmu Einzelheiten aus der Welt fest. So freut er sich am Gefieder eines Vogels, an der Zartheit einzelner Federn, um mit einem weiteren Lidschlag das robuste Schuppenkleid einer Echse zu bestaunen. Er vergleicht es mit seiner eigenen borstigen Haut und spürt ihre Verletzlichkeit. In solchem Moment erleichtert es ihn, seine Krallen an Händen und Füßen sehen und fühlen zu können. Mit ihnen ist er gewappnet. Ab und zu fragt sich Ogmu, ob in seinem Tümpel eine Waffe überflüssig sei. Ein einziges Mal schließt er den Tümpel in seine Weltbetrachtung mit ein, zuckt versehentlich mit den Lidern – und findet sich in einem Wald riesenhafter Bäume wieder. Auf einer Lichtung grollt ein Mammut, schlangenartig schnaubt sich ein Wesen auf Ogmu zu. Ein Lidschlag rettet ihn, gefressen zu werden. Nun schwimmt er zwischen Wogen in einem schaumigen Wellental. Plötzlich schleudert ihn eine Wassersäule in die Höhe, versiegt, und er fällt mit Armen und Beinen rudernd ins Meer zurück, wird leicht angehoben, hockt auf einer Insel, aus der direkt neben ihm die sprudelnde Wassersäule erneut aufsteigt. Ogmu stellt sich seinen Tümpel vor – Lidschlag. Es funktioniert, und er sitzt wieder in seiner Mulde. Hinausgeworfen zu sein in diese Welt, scheint ihm nicht erstrebenswert. Sie anzuschauen,  allerdings sehr.

Bei seinen Erkundungen erfährt er, ein Teil der Aufrechtgehenden nennen sich Menschen. Die Buntheit ihrer Bekleidungen beeindruckt Ogmu. Manche ziehen von den Schultern bis zu den Füßen hinabreichende einfarbige Hänger an, armfrei in hellen Stoffen oder mit lockerer Kopfbedeckung und langen Ärmeln. Andere tragen dem Körper anliegende Oberteile und wippende Stoffe, die die Beine umspielen. Manche verstecken ihre Beine in engen oder weiten Röhren. Andere umgeben sich mit Metall. Wieder andere hüllen sich in ein Tierfell oder wickeln sich in Stoffbahnen.

Es gibt eine Art von menschlichem Lärm, dem er gerne zuhört. Geordnet, harmonisch, rhythmisch, von Einzelnen oder Gruppen mit eigener Stimme oder verschiedenartig geformten Hilfsmitteln hervorgerufen, scheinen sie einem bestimmten Plan zu folgen, der sie weit über sich selbst hinausträgt.

Ein Verhalten, das mit allen Arten von durchdringenden Geräuschen zu tun hat, ist das, was die Menschen Krieg nennen. Viele Nichtmenschen, beobachtet Ogmu, töten Einzelne anderer Lebewesen und fressen sie auf. Nicht so die Menschen. In ihren Kriegen bringen sie ihre eigene Art um, fressen sie aber nicht etwa auf, sondern lassen sie liegen. Berge von Liegengelassenen häufen sich in der Welt. Ogmu schließt aus dem Betrachteten: Menschen  sind Lebewesen, die Kleider, Krach und Kriege lieben.

Ogmu schreckt auf. Er fühlt den Boden schwanken. Jemand nähert sich dem Tümpel. Das Auftreten wird schwerer und lauter. Ein Mensch. So stapft nur ein Mensch. Ogmu schiebt Moder über sich, vorsichtig, langsam. Hört auf zu atmen. Fühlt. Horcht. Ein Platschen. Wasseroberfläche. Krisseln. Etwas sinkt. Eine Stimme: „Mh-mh-Zeit“.

Krisseln näher. Menschenschritt ferner. Nah ein leichter Aufschlag. Der Mensch ist weg. Ogmu fühlt seine Krallen. Er springt aus dem Moder. Er reckt sich und wirbelt um seine eigene Achse.

Am Rand seiner Mulde lag ein heller Klumpen, kleiner als er selbst. Was hatte der Mensch gesagt? Zeit? Was war das? Vielleicht ein Name.

„He, du, heißt du Zeit?“ Ogmu räusperte sich.

Keine Antwort.

Ogmu klatschte ab und zu zart mit den Kiemen.

Der Klumpen reagierte nicht.

Manche Lebewesen konnten schlecht hören. Ogmus Stimme überschlug sich: „Zeit. Hörst du mich? Hat der Mensch dich verloren?“

Zeit schwieg.

Manche Lebewesen konnten schlecht hören und sehen. Ogmu sauste in seiner Mulde hin und her, schleuderte seine dürren Arme und Beine, klapperte laut mit den Kiemen und blies  Luftblasen ins trübe Wasser. Er wartete. Zeit lag vor ihm. Es gab niemanden im Tümpel, der ihm Zeit rauben konnte. Er hatte Zeit.

Zeit sagte nichts.

Ogmu störte das nicht mehr. Immerhin hatte er, Ogmu, Zeit.

Ogmu legte sich in seine Mulde. Er wollte nach der Aufregung etwas ruhen. Er träumte vor sich hin. Vielleicht war Zeit nur schüchtern und machte sich deshalb nicht bemerkbar. Vielleicht war Zeit auch stumm. Mummeln redeten auch nicht. Trotzdem war es ab und zu schön, in ihrem Stielewald zu schaukeln. Welche Eigenschaften Zeit wohl hatte?

Er schaute zu Zeit hinüber. Merkwürdig. Zeit wirkte flacher, und breiter. Es gelang ihm nicht, Zeit in ihrer vorherigen Form zu betrachten, um vergleichen zu können. Berge hatte er wachsen sehen, Flossen waren zu Beinen geworden. Warum konnte er das Wachsen von Zeit nicht beobachten? Ihn fror. Er starrte Zeit an. Plötzlich hörte er ein Knistern. Es kam von Zeit. Zeit machte sich bemerkbar. Langsam hob sich etwas aus Zeits Körper. Ein Zahn? Nein, eine Blase. Sie wuchs und blähte, zitterte und zerplatzte.

Schon entdeckte Ogmu eine weitere Blase. Zeit knisterte deutlicher. Könnte Zeit nicht einfach gehen? Etwas weiter weg von seiner Mulde. Die Blasen häuften sich, platzten alle Augenblicke. Ogmu zuckte jedes Mal aufs Neue zusammen.

Endlich fiel ihm die Lösung ein. Um den beängstigenden Gast loszuwerden, könnte er doch umziehen. Er brauchte nur an diesen Tümpel zu denken und einmal mit dem Lid zu zucken. Wenn die Schlange gerade da wäre, könnte sie Zeit fressen. Oder das zottelige Mammut zertrat Zeit. Oder die Menschen schlugen Zeit tot. Ogmu beruhigte sich. Er lehnte sich in der Mulde zurück. Er träumte: Wenn er Zeit aussetzen würde, könnte er zurückkehren, hätte den Tümpel wieder für sich.

Er konzentrierte sich auf seinen Tümpel. Ein Lidschlag. Nichts passierte. Zeit knallte mit den Blasen, knisterte ihm laut die Ohren voll. Und er konnte Zeit nicht entfliehen.

Während er seinen Fluchtversuch mehrfach wiederholte, hatte er Zeit aus den Augen verloren. Jetzt entdeckte er, dass Zeit deutlich gewachsen war. Zeit begann gerade, über den Muldenrand zu quellen. Ogmu fauchte: „Verschwinde. Wenn wir hier schon zu zweit leben müssen, dann verzieh dich gefälligst dahinten hin. Von mir aus halte dich im Mummelwald auf. Aber hier nicht.“ Er stellte alle Borsten auf, knurrte, hielt Zeit seine Krallen entgegen. Zeit blieb unbeeindruckt. Zeit knallte, knisterte und quoll, wenn auch langsam, über den Muldenrand ihm entgegen.

„Schluss jetzt.“ Ogmu schrie es. Er fuhr mit Hand- und Fußkrallen gleichzeitig in Zeit, zog sich blitzartig zurück und jaulte vor Entsetzen auf. An jeder Kralle klebte ein Zeitfaden. Er ließ seine Arme hängen. Die Fäden verklebten überkreuz mit denen an seinen Füßen. Ogmu wich zurück. Die Fäden dehnten sich nur. Die Fadenkreuze wurden größer. Ogmu beugte sich vor, legte das Gespinst in den Modder, rutschte aus, stürzte, hinein ins Netz. Mühsam stand er auf. Das modrige Netz verklebte Brust, Bauch, Arme, Beine. Er verhedderte sich in Zeit. Er dachte an den Mummelwald, an die Stiele, ihre glitschige Oberfläche. Beim Hangeln aufwärts bis dicht unter die tellerartigen Blätter hatte er sich manches Mal gewünscht, sie wären etwas rauer oder klebriger. Wie pries er jetzt ihre Unnahbarkeit einerseits und andererseits das zufällige Streifen wie Streicheln seines Körpers, wenn er sich zwischen ihnen bewegte.

Ein blubbernder Ausläufer von Zeit kroch auf ihn zu. Ogmu wollte ausweichen, verlor das Gleichgewicht, fiel rücklings in Zeit. Er wälzte sich auf den Bauch, schob sich hoch. Um ihn herum Fäden, zerrende, klebende  Zeit. Eingehüllt, umstrickt in dichtem Durcheinander bildeten die Zeitfäden einen Kokon, in dem er fast bewegungsunfähig steckte. Ogmu gab auf. Er konnte sich aus Zeit nicht befreien. Zeit nahm sich seinen Tümpel, seine Beweglichkeit, seine Mulde – und nistete sich dort ein.

Doch Zeit schuf anderes, Überschaubares. Der Kokon, der ihn umgab, war wesentlich enger als seine Mulde. Er konnte aber in ihm schlafen. Und er bot ihm Schutz.

Allerdings hatte er durch Zeit etwas verloren, den Ausblick, das Betrachten von Welt. Er konnte nur noch von der Erinnerung zehren. Irgendwann würde er an ihre Grenzen stoßen. Irgendwann würde er Vorausschauendes ersehnen. Er sah nicht mehr, was kommen konnte. Aber er hoffte darauf. Jetzt hatte er den schützenden Kokon, hatte Erinnerung und Hoffnung. Und Zeit hatte er. Zeits Begrenztheit. Ogmu seufzte.

Zunächst schien Zeit sich beruhigt zu haben. Weniger Blasen knallten. Zeit knisterte leiser, quoll langsamer. Da Ogmus Kopf inzwischen auch von Fäden besponnen war, hatte sich sein Blick für Zeit eingeschränkt. Eines Tages richtete sich sein Kokon am Kopfende auf. Als er fast senkrecht stand, konnte Ogmu die Ursache seiner Beweglichkeit begutachten. Zeit füllte  seinen Muldengrund, quoll langsam an den Rändern empor, drückte seine Hülle einseitig nach oben. Ogmu beklagte sich nicht. Zeit schenkte ihm eben diese Einseitigkeit und nicht die umgekehrte, bei der er längst kopfüber in Zeit erstickt wäre. So schaute er zu, wie Zeit arbeitete, seine Lage immer stabiler gestaltete. Aber mit der Stabilität des Kokons erhöhte sich auch der Druck auf die Hülle, auf ihn, Ogmu, dessen Beine schon wie in einem Schraubstock klemmten.

Ogmu beschäftigte sich kaum noch mit seinen vielen bunten Welterinnerungen. Er rieb sich auf an der nächsten Umgebung. Jede kleinste Veränderung erregte seine Aufmerksamkeit, fraß sich in sein Hirn und ließ ihn nicht ruhen. Zum Beispiel ein Blatt, das gemächlich durch mooriges Wasser bis zu Zeits Mulde und in die Nähe seines Kokons dümpelte, auf Zeit landete und dort von einer Blase, die gerade platzte, ergriffen und in Zeit hineingezogen wurde. Ogmu starrte noch lange auf die Stelle, wo das letzte Ende des Blattstiels in Zeit verschwunden war.

Direkt unterhalb seines Gesichts platzte eine Blase. Ein Fetzen Zeit verklebte ihm das rechte Auge. Ein Schmetterling schwebte auf Zeits Mulde zu. Blasenfinger griffen nach seinen Flügeln, zerrten. Gekrümmt verschwand der Schmetterling in Zeit. Noch leuchtend sank ein Glühwürmchen auf Ogmu zu. Ogmu reckte den Hals, ihm entgegen, hätte ihn gern mit seinen Händen abgefangen.

„Ach“, rief er.

Das Glühwürmchen landete auf seiner Stirn. Schielend suchte Ogmu das Tier zu fixieren, sah, wie es abrutschte, in die Klebe auf Ogmus rechtem Auge. Es verlosch. Es versank. Ogmu meinte, seine zappelnden Beine auf seinem Augenlid zu spüren. Er verdrehte sein linkes Auge nach oben, erspähte einen Sonnenpfeil. Er wollte „Zeit“ sagen. In diesem Moment schwappte Zeit in seinen Mund, in sein Gesicht, über seine Gestalt. Zeit glättete die Oberfläche der Mulde.

Risse 28


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