Kapitel XII (Auszug)
(In Uwe Saegers unveröffentlichtem Roman findet der Ich-Erzähler Justus Faust seinen Vater Johann Heinrich Faust als Chef einer Irrenanstalt (möglicherweise im Schädel Fausts sen.) und lernt in dieser Anstalt das Verrücktsein als Lebensmöglichkeit kennen. Justus möchte – als Kind seiner Zeit – Superstar werden, und er findet unter den Verrückten jene Leute, mit denen das gelingen kann: seinen Vater, Mephisto und einen gewissen Leverkühn, der Justus ein Lied schreibt.
Was absurd scheint, erweist sich nach und nach als Symbol einer Kultur, in der Einzelne zu Superstars gekürt werden können (aufgrund höchst fragwürdiger Kriterien), alle anderen aber die Schmach des Verlierers zu ertragen haben.
Daneben ist Faust Junior ein Generationsroman nicht nur durch seine Struktur und Handlung, sondern auch in seiner Wirkungspotenz. Die Konfrontation von Faust-Motiven der Literaturgeschichte mit der modernen Medienwelt (u. a. der Casting-Shows) ist Grundlage für ein generationsübergreifendes Gespräch über Werte und Perspektiven unserer Gesellschaft. – Red.)
Bist du verrückt, dann kannst du glücklich sein, mit deinem Wahnsinn bist du nie allein“
Das waren die ersten Worte, die ich vom Gesang der Meute verstand. Unaufhörlich entströmten dem Zelt Personen. Sie schwemmten über das gesamte Land. Vom Gebirg’ bis hinunter in die Auen wimmelte es von tanzenden, singenden Menschen. Und sie umzingelten Faust und Mephisto und mich. Doch hielten sie eine stete Distanz, trotz des einvernehmenden Sogs, den die Meute kraft ihrer Masse und Bewegung und ihres Bestrebens auch – das Wille zu nennen, bedürfte eines Schlusses, der außerhalb jeglicher cranologischer Begrenzung zu ziehen wäre – auf uns ausübte.
„Sie kommen alle“, sagte Faust. Dass er die Hände hob, als segne er alle, die da kamen, war Protz und Hoffart, denn nicht einer achtete auf ihn. „Alle meine Seelen kommen und stehen uns bei.“
Mephisto kratzte in seinen Ohren. „Höre doch drauf, Heinrich!“, sagte er. „Leverkühn hat dir, hat euch, hat uns einen Text geschrieben und ihn in Töne gesetzt, denn ein Tonsetzer ist er nun mal, als hätte er mitten hinein gegriffen in die Anstalt.“ Und er sang mit, was die Meute als Refrain grölte: Bist du verrückt, dann kannst du glücklich sein. In deinem Wahnsinn bist du nie allein. Es treibt dich fort nach nah, nach fern, kannst jeder sein und bist es gern. Wirf deine Masken fort, die Krücken auch, alle Liebe hat nun freien Lauf. Alle Liebe kommt in dir zur Ruh, hier kriegst du auch noch Glück dazu. Hey! Hey! Leben tut uns nicht mehr weh!
Faust hatte begonnen, mit einem Fuß den Takt dazu zu klopfen. Und ich hatte die Melodie mitgesummt.
Wie für ein großes Durchatmen verstummte nun die Menge. Aber es drängten noch immer welche aus dem Zelt nach. Das Gebirg’ war schon bis zur halben Höhe besetzt, und aus den vorderen Reihen wurden einige durch den Druck von hinten auf den Acker gestoßen. Doch hielt die Phalanx als Ganzes dem stand.
„Der Vogelfreie ist auch dabei!“ Faust deutete für Mephisto in die Menge. „Und wie’s aussieht, singt er sogar mit.“
„Und wenn du in drei Minuten noch den tanzenden Nietzsche entdeckst, ist dein Glück vollkommen“, sagte Mephisto. „Aber der frisst eher den eignen Schiet, als dass er mit einem andern im gleichen Takt geht.“
„Mein Glück?“, fragte Faust? „Was ist das?“
„Wenn dein Sohn Superstar wird, das ist dein Glück“, sagte Mephisto. Er stampfte mit dem Huf auf, hob beide Arme – er hatte den Stock, mit dem mein Vater mir einen Jagdhieb und zwei Altdeutsche draufgegeben hatte, in der linken Hand – so als wolle er die Meute dirigieren. Mir winkte er mit dem Stock. „Stell’ dich zu uns, Justus“, sagte er. „Es ist auf alle Fälle besser, wenn wir für die Schnapphanskis deines Vaters ein Bild der Einigkeit geben.“
Mephisto hatte Recht, und ich wollte seinen Wink befolgen, aber ich kam nicht von der Stelle, kriegte die Füße nicht los vom Boden. Danach zu sehen, was die Ursache dafür war, kam mir nicht in den Sinn. Und eigentlich hatte ich nichts im Sinn, und es würde mir auch nichts anderes in den Sinn kommen. Ich sah zwar, wie Faust Mephisto Einhalt gebot, den Prügelstock als Taktstock zu schwingen, weil aus der Menge einige Mannen vordrängten, die Instrumente dabei hatten, und sich zu einer Bandformation aufbauten. Andere aus der Menge schleppten Technik dazu, verlegten Kabel, installierten farbige Strahler und eine Videowand. Es gab so was wie einen Soundcheck. Der Typ für den Vocalpart zeigte sich da erst. Er war XXL. Auch seine Kleidung war XXL und spannte dennoch an seinem ganzen Körper; von so sonderlich ausschlagender Form war er. Sein Kopf war von einem breiten Stirnknochen geprägt und das graue, mähnenartige Haar war zu einem Zopf gebunden.
Faust wies auf ihn und sagte: „Auch Chiron ist mit dabei.“
Und Mephisto zeigte auf den Mann mit der Gitarre und sagte: „Orpheus lässt’s sich auch nicht nehmen.“
„Marsyas auch nicht.“ Faust deutete auf den Saxophonisten, der sich nicht entscheiden konnte, ob er nicht doch die Tompete blasen sollte.
„Und wenn ich’s richtig deute“, sagte Mephisto, „dann ist der Mann am Schlagzeug ein gewisser Walther von den Piepmatzwiesen. Dass der sich so hergibt?“
„Der Zweck ist’s!“ Faust straffte sich, als wäre ein Orden für ihn unterwegs. „Exclusiver lässt sich eine Band nicht besetzen“, sagte er. „Oder was meinst du, Justus?“
Ich hörte, was mein Vater sagte und was er mich fragte, aber ich brachte es nicht auf einen Sinn: Ich sah Chiron, das Untier als Unmensch, eine verworfene Kreatur, erwählter Abfall der Evolution, entgleistes Züchtungsprodukt göttlicher Mixturen, der sich bereit machte, den Part des Sängers zu geben; ich sah Orpheus, den nicht totzukriegenden Schnulzenheini von dunnemals, der Schlagzeilen fabriziert hatte, dass sich einem die Zehnägel krümmten von der anmaßenden Lächerlichkeit; und ich sah Marsyas, einen zotteligen Typen wie ein Edelpunker, vor dessen schauriger Geschichte, die meine Mutter Helena mir mehrmals versucht hatte zu erzählen, ich aber immer davongelaufen war. Und ich sah: Professor Johann Heinrich Faust und seinen Mephist, die vor einer Menge standen, die weit über jedes Gebirg’ und andere Landschaft hinaus gewachsen war und von unruhiger Erwartung zusammengehalten wurde. Ich sah die prolligste Band, die vorstellbar war, die sich zwischen der Menge und Faust und Mephisto aufgebaut hatte. Aber für mich hatte ich keine Wahrnehmung.
Die Strahler wurden eingeschaltet. Über die Videowand liefen Bilder, die ebenso kosmische Gefilde, also Galaxien, interstellaren Nebel, Supernovae oder illuminierte Leere zeigten, wie innere Strukturen neuronal-organischer Beschaffenheit, flimmernde Nervenstränge, Elektronen abfeuernde Synapsen, elektrochemische Reaktionen in Hirnarealen, die in ihrer Bildlichkeit ebenso gut einem kosmischen Ereignis hätten zugeordnet werden können.
„Anfangen! Weitermachen! Zugabe!“, skandierte die Menge.
„Nun stelle dich schon zu uns“, forderte Faust mich auf. „Schließlich findet dieser Zirkus nur deinetwegen statt.“
Chiron posierte in Buddy-Holly-Pose. Orpheus probierte ein paar klirrende Riffs. Marsyas entschied sich für die Trompete, blies eine Tonika. Und der von den Piepmatzwiesen schlug einen exzellenten Wirbel auf die Trommeln und Schellen und Becken und trat die Pauke dazu, dass das Reich wackelte und mein Vater erschrocken zusammenzuckte und um Halt nach Mephisto griff, um sich seines Beistands zu versichern.
„Den Text an alle, bitte“, kommandierte Chiron ins Mikro. Von irgendwo her, aber von oben natürlich, flatterten Blätter hernieder. Warum keinem anderes blieb, als danach zu greifen, denn alle taten’s, erklärte sich nicht. „Lesen habt ihr gelernt“, sagte Chiron. „Also singt mit uns und treibt, wozu’s euch verlockt.“
Mephisto blickte über die Schulter zu mir, irgendwie ging eine Aufmunterung von ihm aus, und er flüsterte Faust etwas zu. Und auch der blickte zu mir. Es war ein langer Blick, voller Zweifel, falls ein Blick damit angefüllt sein kann, und von grüblerischem Blinzeln gebrochen. Er schüttelte den Kopf und flüsterte Mephistos etwas zurück. Darauf nickte Mephisto.
Hau ab, Justus, sagte eine Stimme in mir, hier geht was ab, das klatscht dich auf. Aber es war keine Möglichkeit dazu. Mir fehlte noch immer jeglicher Sinn und alle Riegel waren vorgeschoben, und da, wo vor Sekunden noch Wege zu vermuten waren, standen nun Mauern.
„Also, meine Lieben“, sagte Chiron. „Lasst euch los!“ Und er zählte: „Eins. Zwei. Einszweidreivier.“
Der Piepmatzige schlug wie mit zehn Armen auf die Drums. Chiron röhrte ein „Yeah“ ins Mikro, das einer Monsterwelle gleich aufs Gefild’ niederschmetterte. Orpheus griff die vollen Dur-Kaskaden. Und Marsyas trieb die Luft durch die Trompete, als hätte er’s Halali zur Apocalypse zu blasen. Und die Menge stimmte taktgenau mit Chiron in den Gesang. Es war sinfonisch und tümelnd zugleich, karnevalitischer Pop und leverkühnsche Exclusive tönten masseergreifend und von der Masse intoniert, dass kein Mund verschlossen gehalten werden konnte.
Faust und Mephisto standen Chorknaben gleich nebeneinander, lasen gemeinsam den Text von einem Blatt, das sie gemeinsam hielten, und sangen so laut, dass ich sicher war, Fausts verblüffend hohe Singstimme und Mephistos Bass aus dem Lautwirrwarr herauszuhören.
Aber auch ich hatte ein Blatt in der Hand, las den Text und sang: „Bist du verrückt, dann kannst du glücklich sein, in deinem Wahnsinn bist du nie allein. Es treibt dich fort, nach nah, nach fern, kannst jeder sein und bist es gern. Wirf deine Masken fort … Dass das schon einmal zu Gehör gekommen war, machte es mir gängiger; Musik, Text, Akteure und das Reich waren in den gleichen Bann genommen, die Leverkühnsche Hinterlassenschaft funktionierte, wenn womöglich auch gegen den Hintersinn ihres Erstellers, so doch im Sinne des Auftraggebers; ein Titel, der so mitriss, hatte das Potenzial, seinen Interpreten zum Superstar zu kreieren; und ich sang weiter mit „… die Krücken auch, alle Liebe hat nun freien Lauf. Alle Liebe kommt in dir zur Ruh, hier kriegst du auch noch Glück dazu. Hey! Hey! Leben tut hier nicht mehr weh!
Was war das für ein Singen! Und was war’s für ein Tanzen, in das die Menge sich schickte! Das Gefild’ erschütterte, die Anstalt bebte, und das Reich wackelte und bröckelte in seinen Verfügungen. Und was waren das für Musikanten? Sie verstanden sich auf ihre Instrumente, als würden sie einer für hundert gelten. Wie Drogen warfen sie die Töne in den Raum; jeder Ton, jeder Takt war Imperativ zum Weitermachen. Wer hier ausstieg, tat’s für immer. Wer jetzt ausgeschlossen wurde, konnte sich als – bestenfalls und schlechterdings – Shortstory in einem anderen Reich exhumieren lassen.
„Hier sind die Narren mit den Toren gleich. Wer arm ist, ist auch potten reich. Wer reich ist, ist auch arm zugleich, in jeder Zelle haust ein Himmelreich.“ Chiron röhrte wieder ein markantes „Yeah! Yeah!“ ins Mikro und warf es in die Menge.
Der’s fing – ich glaubte, den Chronisten erkannt zu haben – aber er war auf die Sekunde von mit ihm grölenden Insassen, denn es sei nicht nur für mich angemerkt, nicht zu vergessen, wo man sich befand, umstellt – machte mit Vehemenz weiter, stand Chiron in nichts nach: „Einsamkeit ist uns ein fremdes Wort, nur lose Lust treibt uns hin und fort. Für einen stehen alle auf; und alle geh’n für einen drauf.“
Von dem ums Mikro tobenden Pulk ging eine Bewegung in die Menge, die ihre eigene Dynamik entwickelte. Die Menge begann zu tanzen. Und Chiron winkte mir mit einer Gitarre. Ich begann mich dorthin zu bewegen und sang mit: „Die Ängste machen hier uns Lachen nur; Entzug und Prügel sind uns Orden pur. Zu leben braucht’s hier keinen Trick, aus jedem Abgrund führt ein Weg zurück.“ Und schon stieg der Refrain aus Millionen Kehlen auf: „Bist du verrückt, dann kannst du glücklich sein.“ Alle Füße stampften auf den Boden, alle Hände wurden ineinandergeklatscht, alle Kehlen schrien den Singsang in einem himmelsstürmenden Choral und alle Körper wirbelten wie toll gemacht und befreit von der Angst ihrer Sehnsüchte in einem bacchanalischen Tanz durch den von jeder Grenze freigesprochenen Raum. „Leben tut uns hier nicht mehr weh“, schrie das Reich.
Und ich sah, als ich mir die Gitarre umhängte, dass Faust und Mephisto es gleichfalls so intonierten, so als wären sie mit einem jeden andern von gleich zu gleich, und dass es sie durchzuckte und sie dem Sog in den Tanz nur noch schwer widerstanden.
„Das ist alles in Dur“, rief Chiron mir zu. Er hatte sich ein Bassbrett umgehängt und die Gegenläufe, die er spielte, heizten die Menge noch stärker an.
Ich traf’s mit dem ersten Akkord. Und wir alle sangen wie mit einer Stimme. Und die Menge, in die Faust und Mephisto einvernommen waren, tanzte wie in einem Guss. Und nur die Statik einer Anstalt, wie mein Vater sie sich erschaffen hatte, konnte einer solch völkischen Dynamik standhalten; nur in einem Kopf sind die Dimensionen so flexibel, dass sie von einem gemeinschaftlichen Auswuchs in ungezügelter Verglückung nicht zerstört werden.
Wir sangen: „Mit blinden Münzen kaufen wir uns frei, sind sie gestohlen, uns ist’s einerlei. Wir streben nicht nach Lohn und Dank, Mangel und Krise machen uns nicht krank. Aus jedem Traum wächst uns ein neues Ziel; Lüge und Wahrheit sind uns Kinderspiel. Wir haben Heimat jetzt und überall, und stehen auf nach jedem Fall. Und keiner muss hier Sieger sein, wir könn’ uns als Verlierer freun. Jeder Sturm ist hier ein frischer Wind, wer es will, der bleibt für immer Kind.“
Ach, wie sangen wir’s alle! Wie riss es uns hin! Wie ließen wir uns los! Und ich dachte: Wenn’s „Wir wollen Krieg!“ ebenso in Töne gesetzt wäre, es jede Menge auf mordio ohn’ Erbarmen treiben würde. Mich jedenfalls hielt’s nach „Aus jedem Traum wächst uns ein neues Ziel“ nicht mehr an der Gitarre. Ich schleuderte sie fort, so als wär’s die Krücke, von der zuvor gesungen worden war, sprang in die Menge, sang und tanzte, so als wäre das alles in mir vorgegeben und jetzt erst zum Abruf frei. Ich tanzte, dass ich Gefahr lief, mich zu entkörperlichen, dass ich mich aufgeben würde in der Ekstase und mich eingab in die Menge, die, trotz dass sie sangen und tanzten wie ich und wie Faust und Mephisto, aus Verrückten allesamt bestand, und dass ich somit dann auch ein solcher würde und wäre. Aber die Aussicht auf standesgemäße Verblödung bedrückte mich nicht; ich war außer mir, das begriff ich, ich hatte wieder Sinn. Und ich war selig. Ich war neu, und ich war groß, ich war so groß wie nie zuvor. Ich war rasend, so, wie die andern rasend waren. So war die Tollheit normal und das Gesunde toll, weil – aber woher wusste ich’s? – Künstler nun mal einen Vogel haben, das gehört zur Mindestausstattung ihrer Existenz, und waren’s demnach nicht Künstler allesamt, die in meines Vaters Anstalt einbestellt waren? Jeder war in seiner Art von einem Künstlertum bestimmt, das nicht übertragbar war. Auch der knochentrockene Chronist bedurfte, um hier dabei zu sein, einer künstlerischen Initation.
Und so schrien wir Künstler alle: „Leben tut uns hier nicht weh!“
Und damit war’s, als wäre allem ein Stopp! geboten worden. Chiron verkrächzte sich ins Mikro. Und Orpheus und Marsyas vertaten sich mit ihren Instrumenten. Und der von den Piepmatzwiesen saß wie erstarrt und mit erhobenen Armen zwischen den Drums und starrte auf einen Mann, der aus dem Irgendwo in die Menge gekommen war und vor dem ein jeder wie vor einer Gefahr zurückdrängte.
Der Mann war groß, hager, dünnes gelbbraunes Haar umwuchs seinen Schädel im Kranz. Er bewegte die Arme, als dirigiere er vor einem Orchester.
Auch Faust und Mephisto standen still – dass sie einander bei den Händen hielten, wie’s Paare in Tanzpausen, wenn sie das Parkett nicht verlassen, in einvernehmlicher wie besitzanzeigender Absicht tun, blieb ohne Beweis – und warteten ab, was von dem Fremden vorgetragen würde.
Doch da stöhnte es schon aus der Menge: Der Leverkühn wieder, der’s uns versaut! Und aus anderer Richtung kam: Der persifliert seine Auferstehung genauso wie seinen Tod; man hätte ihn auf der Bühne abstechen sollen!
Chiron zischte den Fremden an, es schlug wie ein Peitschenhieb in die Szene, denn er hatte das Mikro nicht abgeschaltet: „Verzieh dich, Adrian! Verpiss dich mitsamt deiner unerhörtbaren Musik!“
„Hah!“, entfuhr es dem Leverkühnen, denn der war’s, auch wenn ich ihn mir so nicht erinnern konnte, und er fuchtelte mit den Armen, als wolle er sich mit seinem Dirigat zu Fall bringen und setzte nochmals ein „Hah!“ nach.
Chiron jodelte eine Almenrausch-Kadenz und drehte sich ein vor Verzweiflung und schrie: „Kriegt Faust seine missratene Version denn nie in sichere Verwahrung? Dieser kühne Lever steigt aus aus’m Tod wie’s Küken aus’m Ei. Das darf nicht wahr sein. Wo sind wir denn. Ich werde noch verrückt an dem Kerl.“
„Zunichten die Töne“, sagte Leverkühn. „Aber man vermöchte das Spiel zu potenzieren, indem man mit Formen spielete gleich den Tönen, aus denen, wie man weiß, das Leben geschwunden ist.“
„Potenzier den Kerl an die frische Luft“, ging Marsyas mich an und trompete eine schauerlich wilde Tonade. „Der Typ will eine Musik, die’s Leben nicht kennt und nicht braucht.“
„Keine Gewalt“, sagte Leverkühn. Er wendete sich zu mir, brachte seine Arme zur Ruhe. „Es legt keiner eine Hand an einen, den die Götter, die unendlichen, alles ganz geben wie ihren anderen Lieblingen auch; alle Freuden, die unendlichen, und alle Schmerzen, die unendlichen, und ganz dies all.“
„Das ist nicht dein Text“, dröhnte da die Stimme meines Vaters. Faust trat von Mephisto, der ihn flüchtig noch berührte mit einer Hand, als wolle er ihn seines sich’ren Beistands versichern, und in den Reigen der anderen, die sich zum Spalier um Leverkühn gestellt hatten. „Das sind dessen Worte, der uns, dir wie mir, zu Diensten war.“
Wie klein Faust sein Reich machte damit, dass er sich wieder und noch immer auf die alten Texte berief. Die Masse wirkte nun wie eingeschmolzen, das stattliche Gebirg’ wie eine Aufschüttung unwerten Bodens, und der Raum, trotz dass die vierte Dimension weiterhin unangetastet vorhanden war, kümmerte zum Verlies.
„Du Scheißkerl“, erwiderte Leverkühn meinem Vater. „Du Landbescheißer von Gottes Gnaden.“
„Raus!“, befahl mein Vater und streckte seine Arme ins Unbestimmte. „Hol dir deine Papiere und zieh Leine.“
„Was’n Wort! Wess’n Wort?“, hechelte Leverkühn. „Der Grünrock stempelt unser Brevier. Und lässt du ihm einmal noch freie Hand, weißt du, wohin’s uns bringt.“
Mephisto räusperte sich für alle vernehmbar. Und mein Vater Faust wies mit ausgestrecktem Arm auf mich und weiter dann in ungebrochener Bewegung auf den Leverkühnen. „Justus!“ Das Pastorale in seiner Stimme dehnte den Raum wieder um einiges. „Expediere er das Monstrum, mein Sohn!“
Leverkühn blinzelte mich ab, als wäre ich eine Geistgestalt. „Dein Sohn?“, fragte er. Um sich an Faust zu wenden: „Dein Sohn, der? Der? Der ein faustisches Gezücht? Der? Ein Erguss aus deinen verteufelten Lenden? Und in welche Büchse? Faust! Du Oberirrer von Teufelsfluch und Satansgnaden! Aus welcher Büchse ist der entsprungen? Unsereins, ach Faust, du loser Schwengel, vermehrt sich nicht ins Ungezücht. Solch Brut ist stets aufs Ungebill versprochen.“
„Raus!“, belferte mein Vater abermals! „Oder ich vergess mich an dir, Leverkühner! Ich vergess, dass wir auf die Worte aufgerufen sind in die Zeit und werd’ zum Täter an dir.“ Er blickte sich um nach seinem – oder war’s nicht schon, die Frage schnitt mich scharf an, unser? – Mephist; doch der hielt den Kopf gesenkt und blickte auf seinen Huf. „Noch ein Wort gegen mich! Und ich schlag zu.“
„Du kleiner Verbrecher heuchelst dich hinauf“, flötete Leverkühn und tänzelte um seine eigenen Füß’. „Und stellst dich vor deinen Spross wie als ein großer Mann und selbst ernannt.“
„Schweige!“ Faust trat die Füße auf, als hätte er Leverkühn wie einen scharf gemachten Hund wegzutreten. „Halt’s Maul oder ich stopfe es dir!“
„Du! Du hebst die Hand gegen mich? Einmal würdest du deine Untaten selbst verüben. Und das an mir?“ Leverkühn strich wie benommen von dieser Möglichkeit mehrmals das Rund seines Haarkranzes. „Du willst mich schlagen, Faust? Jetzt? Hier? Wo dein Sohn mit meiner Musik, so wie deine Mannen es vorgetragen haben, noch mehr als nur alle Chancen hat, sich seinen Lebenstraum zu erfüllen. Und du warst’s doch, der mich drum angebettelt hat um meine Musik. Und du wusstest und weißt, dass meine Musik mein Leben ist. Und ich habe sie gegeben, meine Musik.“
„Teufel“, schrie mein Vater Faust! „Dieser Kerl redet mir in mein Blut mit seiner toten Musik.“
Mephisto gab Faust Beifall, animierte die Menge, es ihm mitzutun; doch gelang’s ihm mit keinem Einzigen. Und Leverkühn klatschte seine Hände dreimal ineinander, das war sein Beifall für den Beifall des Teufels. „Du fängst mich kein zweites Mal, Leviathanus Hinkefuß“, sagte er zu Mephisto. Aber dann war’s vorbei mit seiner Beherrschung. „Ich rede von toter Musik!“ Das schrie der Leverkühne und schleuderte seine Arme über sich, verflatterte seine Hände hinauf, als wolle er ins Gewölk fassen und das so, als könne er ein gewaltig allgewaltiges Tönen von dort hinab auf mich und meinen Vater reißen. Aber nur das Rascheln seiner irgend kuriosen Bewegung verklang sich in den Räumen, und seine vom Toten eingefärbte Stimme ging ihm dazu wie ein Klagen. Er sagte: „Ihr hättet besser getan, Euerer Antipathie gegen die Worte nicht zu gedenken, wenn ihr nicht wolltet, dass ich in Eueren Deduktionen eitel Teufelsfürze zu Schimpf und Schaden des Werkes erkenne.“
„Bist du verrückt, dann kannst du …“, säuselte es aus der Menge, und der von den Piepmatzwiesen schlug einen verhaltenen Tusch dazu.
„Nur, weil’s der Enkel wegen nicht zu verweigern war, verriet ich mir meine Musik für den.“ Leverkühn pustete gegen mich, als wäre ich ein Staub, den er aufwirbeln musste, damit er zu bemerken war. „Für dich, Faust, unbestellter Bruder, hätt ich besser Messer geworfen und dir ein Fass angezündet unterm Arsch für die Reise geradewegs in die Höll’!“
Mein Vater reckte sich auf zu grandioser Größe und beugte sich vor zum Sprung auf den Leverkühnen; er ging den an aufs Zerfleischen, so viel blieb ohne Zweifel.
„Mach ihn fertig“, drängte Mephisto Faust. „Und gib ihm meinen Teil mit dazu.“
Aber ich rief: „Nein, Vater! Nein!“ Denn es war doch Leverkühns Musik, mit der er sich meinetwegen verriet, und die das Zeug hatte, mich zum Superstar zu machen; was auch immer der tiefere Grund für ihren Zwist war, ob die Buhlschaft um und mit Mephisto oder die zweifelhafte Brüderlichkeit, die sie aus ihrer ebenso zweifelhaften Rühmlichkeit begründeten, der Leverkühne hatte einen Dank verdient und nicht, dass er in einer kannibalischen Attacke meines Vaters verendete.
Doch in meinem Ruf riss Orpheus die nun tausend Saiten seiner Gitarre an, dass es dröhnte und schmetterte; und Marsyas blies hundert Trompeten, dass es schmetterte und dröhnte; und der Piepmatzige schlug mit verzehnfachten Händen auf die Trommeln und Becken und Pauken, dass es einen jeden in Rucken und Zucken trieb und es bald nur eine Bewegung noch gab. Alle und alle tanzten weiter den Tanz der Verrückten und sangen, dass Chiron, trotz dass seine Stimme mikroverstärkt war, Mühe hatte, darüber zu bleiben. Faust, Mephisto und Leverkühn wurden einvernommen in die wieder aufbrodelnde Gemeinschaft, wurden fortgerissen in den sich wieder weitenden Raum, wurden Teil der Menge und Anteil der Masse, die sich vom Leib zu halten, sie sich eigentlich zur letzten Aufgabe gemacht hatten. Und bevor der Lärm jeden anderen Ton zudeckte, hörte ich noch Mephisto sagen, und es klang, als sehne er sich nach andernorts: „Das alles wäre wunderschön, nun aber braucht’s noch Schreckgetön.“ Und von Faust hörte ich antworten: „Da droben klappert’s, rasselt’s lange schon, ein wunderbarer falscher Ton.“ Und Leverkühn verjodelte: „Banausisches Gelichter! Das mordet meine Musik! Das verrät mir meinen Verrat! Jucheissaundballaballa!“
Nur ich blieb dem diesmal außen vor. Stand ich am falschen Ufer? War ich im falschen Film? Hatte ich einen Knopf an der Backe? War ich ein Neger? Oder war ich ein Wiedergänger? War ich tatsächlich draußen und angeschmiert mit drei Kreuzen und siebentausend Fragezeichen? Hatte ich’s verpasst? Oder war’s vorbei für mich? Ich stand, wo der Raum vor Zeiten einmal seinen Anfang genommen hatte, denn zwischen meinen Zehen leuchtete ein Punkt rhythmisch pulsierend in bläulichen Alarmfarben, und ich spürte seine Expansion, weil sich die Poren in meiner Haut vergrößerten. Wie aus Zeit gemacht empfand ich mich; in alles hineinreichend und von niemandem zu verhindern. Ich sah die sich an der Musik, am Gesang und an sich selbst berauschende Masse, die entgegen des expandierenden Bestands, sich zu einer beinahe kreisrunden Formation ballte und gegen das wieder aufwachsende Gebirg’ trieb. Ich gehörte nicht dazu, und doch sang ich, was gesungen wurde: „Die Zeit gibt uns keine Rätsel her, Geld und Macht verderben uns nicht mehr. Kein Unterschied von Dein zu Mein, Gott und Teufel dürfen hier Brüder sein. Von jedem Kuchen nur das größte Stück, Gesetze brechen ist kein Missgeschick. Mauern, Fesseln, Gitter halten uns nicht auf, zu allen Türen tanzen wir hinaus. Hey! Hey! Hey! Leben tut hier nicht weh.“
Und es war, als gäbe es Türen vor dem Gebirg’, zu denen hinaus sich die Menge aus dem Raum tanzte. Ich wurde allein gelassen. Masse, Dad und Teufel verschwanden. Aber übers Gebirg’ klang’s weiter herüber. Und das mit derart irrwitziger Inbrunst, dass es mich herausforderte, lauter zu singen und wilder zu tanzen, denn ich brauchte auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen; ich war allein, und der Ort wurde, trotz all seiner Bedenklichkeiten, von nichts und niemandem beansprucht, ich belästigte und beleidigte niemanden, ich hatte Raum, und ich hatte Zeit, und nichts und niemand war mir im Weg; ich durfte mich loslassen und hatte mich nicht zu rechtfertigen. Ein meisterlicher Tanz war’s nicht, den ich hinlegte auf den nun laminierten Teil von meines Vaters Kopf – denn wo ich mich befand, vergaß ich nicht – und einem Caruso hätte ich auch keine Konkurrenz gemacht; aber ich war, und so stand’s mir gut zu Gesicht, und es musste ja auch nicht für immer sein, wirklich. Ich sang: „Bin ich verrückt, dann werd’ ich glücklich sein, in meinem Wahnsinn bin ich nie allein. Treibt’s mich auch fort, nach nah, nach fern, kann jeder sein und bin es gern. Ich werf’ die Masken fort, die Krücken auch, meine Liebe hat nun freien Lauf. Deine Liebe kommt in mir zur Ruh, hier kriegen wir auch Glück dazu. Hey! Hey! Hey! Mein Leben tut uns hier nicht weh. Yeah!“
Während ich sang und tanzte, war etwas geschehen. Ich war noch immer wirklich, aber ich war’s nicht mehr allein. Ich hatte vom Glück gesungen, das wir hier noch dazu kriegten und hatte ab da einen Tanzpartner. Es gab einen Körper, dem ich eine Hand an die Hüfte legte und von dem ich eine Hand an die Hüfte gelegt bekam, und unsere andern zwei Hände vergriffen sich ineinander, wie’s zum Tanz geschieht, und signalisierten mit Druck und Gegendruck, wie’s geführt sein sollte mit uns. War’s Walzer? War’s Tango? War’s Foxtrott? Jedenfalls traten wir einander nicht auf die Füße, prallten nicht gegeneinander aus Ungeschick oder Missverstehen, veranstalteten weder Hopser noch Trampelein. Wir tanzten harmonisch, fügten uns zueinander. Ja, so tat’s Leben nicht weh! Vielleicht auch, weil ich die Augen, seit ich gespürt hatte, dass ich nicht weiter allein tanzte, geschlossen hielt. Denn eine Ahnung hatte ich, wer sich mit zugesellt haben könnte. Den Körper hatte ich vormals schon kontaktet, die Hand, die in meiner Hand war, hatte ich schon gespürt. Und die Stimme, die sagte, „Mach die Augen auf, Justus! Wir sind allein. Und wir haben von keinem was zu befürchten“, kannte ich. Und so war’s denn Wagner, den ich sah und den ich in meinen Armen hielt und der sich mit den letzten Klängen des Liedes, die noch über das weiter wachsende Gebirg’ zu uns drangen, an mich schmiegte und sagte: „Lass uns die Zeit, uns zu entdecken, Justus! Lass dich überraschen von …“ Wagner lachte ein Lachen wie ich’s gelegentlich von meiner Mutter gehört hatte, wenn sie auf irgendwas neue Zuversicht gefasst hatte und keine Bedenklichkeit weiter zuließ. „… einem Famulus, wie ihn die Welt noch nicht erlebt hat und sich auch nie hat vorstellen können.“
Wagner war, es gibt Offenbarungen, die sind, nimmt man sie an, Erlösungen, so wirklich wie ich. Sein Körper war greifbar, seine Stimme hörbar, und ich konnte ihn riechen. Es baute sich nichts auf gegen ihn in mir. Wir waren eine Übereinkunft gegen die Einsamkeit. Ich hielt ihn fest, und er hielt mich fest. Stille war. Der alarmmäßig bläulich pulsierende Punkt zwischen meinen Füßen verblasste. Die Poren in meiner Haut verengten sich wieder. Der Raum atmete aus. Aber das, woraus ich gemacht war, bliebt so souverän wie eh. Und das heißt, wer die Zeit als Wahrheit erfunden hat, hat sie in Ewigkeit geschmiedet.
„Glaubst du, dass du mit dem Titel Erfolg haben wirst?“ Wagner blickte gegen das Gebirg’, als erhoffte er, dass von dort neu aufgespielt würde. „Ich meine, was ich davon verstehe, dafür braucht’s eine richtige Welt.“
Ich stand mit Wagner Hüfte an Hüfte, Schulter an Schulter. Aber seine nach wie vor weiche Fleischlichkeit vermittelte mir nun keine Irritation. Aber, und dieser Gedanke blitzlichterte in mir auf, dass Wagner so nicht zum ersten Mal einem andern nahe war, und das beunruhigte mich. Zumal, wenn’s so war, dann kam dafür nur eine Person in Frage; nämlich mein Vater Faust! Und ich sagte. „Du tanzt gut. So was muss man doch lernen. Mit wem hast du’s geübt?“
„Mit Faust nicht, so wie du es denkst“, antwortete Wagner. „Obwohl ich … Sagen wir’s so, damit du nicht unnütz auf eifersüchtig machst, ich hab’s versucht, ihn rumzukriegen. Aber ein Faust – und auch du bist einer – spielt mit dem Teufel und buhlt um die schärfsten Käthen des Erdballs, aber einen Famulus zu entdecken, darauf lässt er sich nicht ein; nicht einmal auf das Quäntchen Spekulation, dass es da was zu entdecken gäbe, das eine Entdeckung wäre!“
„Was ist’s denn, das der Famulus zu bieten hat?“, fragte ich? Mir war’s egal, was jetzt kommen mochte, ich hatte mit Famulus Wagner getanzt, Haut an Haut waren wir gewesen und waren’s noch. Zwar gab’s kein Gefühl, das bis zum Himmel gereicht hätte, aber wenn einer dem andern die Einsamkeit wärmt, ist’s schon mehr, als schlichte Zweisamkeit gewöhnlich zu bieten hat.
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