Wir hatten geglaubt, unser Vater hätte sich sein Leben lang nichts Ernsthaftes zuschulden kommen lassen. Aber dann entdeckten wir in seinem Nachlass ein Bild, das uns eines anderen belehren sollte. Es handelte sich um eine verwackelte Schwarz-Weiß-Fotografie von halber Postkartengröße, auf der er als junger Mann im Unterhemd und mit zerwühlten Haaren in einem uns unbekannten Zimmer zu sehen war. Die Arme unterhalb des Bildrandes aufgestützt, stand oder kniete er den Kopf weit vorgestreckt, als wolle er der Person hinter dem Sucher möglichst nahe sein, und strahlte, wie nur jemand strahlen kann, der vollkommen sicher ist, am Ziel all seiner Sehnsüchte angekommen zu sein. Im Bildhintergrund sahen wir neben einem Fenster einen Sessel stehen, über dessen Rückenlehne Kleidungsstücke geworfen waren. Hinter dem Fenster ließ sich ein Ausschnitt des Gebäudes auf der gegenüberliegenden Straßenseite erkennen, an dessen Front eine glänzende Löwenskulptur auffiel.
Dass jene Fotografie mit großer Wahrscheinlichkeit bereits vor der Eheschließung unserer Eltern und damit auch vor unseren Geburten aufgenommen worden war, nahm ihr nichts von der Wucht, mit der sie uns traf, denn nie, unser ganzes Heranwachsen lang nicht, zu keiner ihrer Natur nach noch so freudvollen Gelegenheit hatten wir unseren Vater derartig glücklich sehen können. Immer war da ein ABER in seinem Blick gewesen, als habe er sagen gewollt, dass dies ja alles gut und schön sein möge und gewiss ein Grund zur Freude, jedoch für ihn leider nur in eingeschränktem Maße, da es gegen das Eigentliche nicht ankäme. Und weil er nun mit gerade mal sechzig Jahren gestorben war, würden wir ihn auch in Zukunft nie derartig einverstanden mit der Gegenwart erblicken können wie auf diesem Stückchen Fotopapier. Deshalb fühlten wir uns unsäglich betrogen.
Unsere Mutter mit diesem Foto zu konfrontieren, hielten wir für keine gute Idee, da sie seit ihrem Eintritt in den Witwenstand alle Energie darauf verwandte, sich ihre Ehe schön zu erinnern, weshalb es uns geradezu fahrlässig erschien, ihr zu zeigen, dass der Mann, den sie unwiederbringlich verloren hatte, tatsächlich zu uneingeschränkter Glückseligkeit in der Lage gewesen war. Ohnehin hatten wir im Zusammenhang mit der Fotografie nur deshalb an sie gedacht, weil wir eine Fährte suchten, denn wir bildeten uns ein, das Recht dazu zu haben, zu erfahren, unter welchen Umständen unser Vater derartig froh hatte aufgenommen werden können. Auch unsere Großmutter väterlicherseits schied, da sie längst gestorben war, als Informationsquelle aus. Da fiel uns ein, dass Annas, unserer Jüngsten, deutlich älterer Ehemann einen gehobenen Posten bei der Polizei bekleidet, und wir trugen ihr auf, ihn zärtlich darum zu bitten, seine Verbindungen zu nutzen, um herauszufinden, wann und wo das Bild gemacht worden sein könnte.
Das Alter des Abzugs zu ermitteln, war für die Kriminalisten eine Kleinigkeit, denn ein verblasster Stempel auf dessen Rückseite, den wir mit bloßem Auge nicht gesehen hatten, ließ bei nur etwas Sachkenntnis eindeutig darauf schließen. Demnach musste unser Vater, sofern der Film nicht erst Monate nach diesem Schnappschuss entwickelt worden war, bei dessen Zustandekommen achtzehneinhalb Jahre gewesen sein. Weil er weiteren Recherchen zufolge während dieser Zeit noch in bemerkenswert trauter Zweisamkeit mit seiner alleinerziehenden Mutter gelebt hatte, lag es nahe, die Hausfront mit der Löwenskulptur zunächst in seiner Heimatstadt zu suchen, wo sich mit einem Hotel tatsächlich ein Gebäude fand, das ein solches Tier als Wahrzeichen trug. Und nach einem durch Polizisten vor Ort vorgenommenen Vergleich der übrigen Details im Hintergrund mit der Fensterfront des „Goldenen Löwen“ stieg die Wahrscheinlichkeit, dass das Zimmer, nach dem wir forschen ließen, sich unmittelbar gegenüber befinden musste, bis an die Grenze zur Sicherheit.
Da wir uns ab sofort anstelle unseres Vaters, der zweimal jährlich zur Grabpflege in seine Heimatstadt gefahren war, um das Grab unserer Großmutter kümmern wollten, kam uns die Idee, diesen guten Vorsatz zum Anlass zu nehmen, die weiteren Nachforschungen persönlich fortzusetzen. Kurzentschlossen begaben wir uns in die Stadt seines Heranwachsens, die auch für uns etliche Erinnerungen barg, weil unsere Eltern uns in frühen Kindertagen bisweilen für eine Woche unserer Oma überlassen hatten. Wir fanden das infrage kommende Gebäude beinahe sofort und zweifelten nach detaillierter Inaugenscheinnahme der ihm gegenüber befindlichen Fassade nicht mehr daran, dass es sich um das gesuchte handelte. Jedoch wurde es den Firmenschildern neben der Tür und den Jalousien an den Fenstern nach jetzt offensichtlich als Bürohaus genutzt. Jemanden auf Verdacht zu fragen, wer zu jener Zeit in der bestimmten Wohnung gelebt hatte, erschien uns wenig aussichtsreich. Also beschlossen wir, dass Anna beziehungsweise ihr Mann sich abermals ins Zeug legen sollten.
Sinnvollerweise hatten wir die weite Reise aber ja noch aus einem anderen Grund unternommen und zögerten nun nicht länger, dem Friedhof, vor dessen Tor wir einen Blumenstrauß kauften und eine Harke ausliehen, den geplanten Besuch abzustatten. Jedoch mussten wir unverrichteter Dinge wieder abziehen, denn nachdem wir das Grab unserer Großmutter eine halbe Stunde lang vergeblich gesucht hatten, erfuhren wir von einem neugierig gewordenen Gärtner, dass die Stelle, an der es sich befunden hatte, längst neu belegt worden war – „Zum Glück!“, wie der Wettergegerbte kommentierte, denn solch eine von Grund auf vernachlässigte Grabstätte sei eine Schande für die ganze Anlage gewesen. Worauf wir ihn der maßlosen Übertreibung zu überführen gedachten, indem wir kundtaten, dass unser Vater, der Sohn der Verstorbenen, seit deren Ableben eigens und immer wieder sowohl im Frühjahr als auch kurz vor dem Winter eine lange Fahrt unternommen, ja ein Zimmer gebucht habe, um eben diese Ruhestätte in bestmögliche Ordnung zu bringen – in den Augen des Mannes offensichtlich eine reine Erfindung, die er mit traurigem Kopfschütteln quittierte.
Wieder daheim dauerte es nicht lange, bis Anna uns mit neuen Informationen versorgen konnte. Unser privater Ermittler hatte herausfinden lassen, dass um die Zeit, in der das Foto unseres glücklichen Vaters aufgenommen worden sein musste, eine damals dreißigjährige Frau in besagter Wohnung gemeldet gewesen war, eine Frau, die inzwischen mehrmals geheiratet hatte, ebenso oft wieder geschieden worden war und noch immer in der Stadt, wenn auch in einer anderen Straße, lebte. Darüber hinaus durften wir erfahren, dass sie früher in dem Ruf gestanden habe, auffällig häufig ihre Sexualpartner zu wechseln und möglicherweise sogar ihren Körper und ihren sexuellen Erfahrungsschatz gegen Geld zur Verfügung zu stellen. Und abermals packten uns darauf Reisefieber und Entdeckerlust, obwohl wir im selben Augenblick unabhängig voneinander errechnet hatten, dass wir im Begriff waren, eine Zweiundsiebzigjährige mit unserem wackelnden Vaterbild zu behelligen.
Wir hatten uns telefonisch angemeldet und auch mitgeteilt, dass ein Todesfall der Anlass unseres Besuches sei. Es öffnete uns eine zierliche Person mit halblangem, dunklem Haar, die uns wortlos mit in ihre Wohnung und ihr farbenfrohes Wohnzimmer nahm, wo wir uns um einen Tisch mit Tee und Gebäck setzten. Lange wanderten ihre braunen, eine große Wärme ausstrahlenden Augen forschend von einer zur anderen, ehe sie mit ruhiger Stimme fragte, wann und wie unser Vater, der durch uns bis dahin mit keiner Silbe erwähnt worden war, gestorben sei. Nachdem wir ihr geantwortet hatten, schenkte sie uns ein, und wir nippten eine Zeitlang schweigend an den Teeschalen. Anstatt zu erklären, weshalb wir gekommen waren, holte ich schließlich die alte Fotografie hervor und legte sie neben ihren Teller. Darauf flog beinahe augenblicklich ein Lächeln über ihr Gesicht. Nun vollends sicher, die Gesuchte vor uns zu haben, warteten wir gespannt darauf, ob sie erzählen würde.
Und nachdem sie das Bild in die Hand genommen und eine Zeit lang versonnen betrachtet hatte, sollten wir erfahren, dass die zwei tatsächlich vor mehr als vier Jahrzehnten ein Paar gewesen waren – ganze drei Tage und Nächte allerdings nur, denn für länger hatte unsere Großmutter sie, die rehäugige Frau, die aufgrund einer schicksalhaften Fügung getroffen zu haben unser Vater sich auf dem Foto noch einbildete, nicht bezahlt. „Ich möchte jetzt allein sein“, beendete sie ihre Auskunft, ehe wir etwas sagen konnten. An der Tür, streichelte sie jede von uns zum Abschied auf eine besonders zärtliche Weise, indem sie ihren Handrücken langsam von der Schläfe bis zum Kinn gleiten ließ, der Nasenspitze mit dem Daumen einen kleinen Stups versetzte und dabei die erste Hälfte eines Kinderreimes aufsagte, dessen zweiten Teil wir folgsam hinzufügten, denn es handelte sich um eine Liebkosung, die wir mit glücklichem Schauder wieder erkannten, weil unser Vater sie uns manchmal geschenkt hatte. Die Frau danach zu fragen, wann die beiden einander zum letzten Mal begegnet waren, wagten wir nicht.
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