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Der Text ESSEN ist das erste Kapitel des Romans SAKUSKA von Daniela Boltres, an dem sie gerade gearbeitet hat. Es handelt sich dabei um den Eröffnungsabschnitt aus dem ersten Teil des Buches, ORAL HISTORY.

Im Mittelpunkt des Romans steht die Figur Dina Wolters, die nach ihrer Migrationserfahrung vorübergehend sprachlos wird trotz der Fülle an Sprachen, die sie beherrscht. Sie gewinnt zunehmend wieder an Sprache und Identität zurück, indem sie ihren neuen FreundInnen die alten Geschichten ihrer Familie und ihres Herkunftslandes erzählt – im Rahmen üppiger Essen mit alten Gerichten ihrer Familie und ihres Herkunftslandes. Allerdings sind es stets Varianten der Geschichten, wie es stets Varianten der Gerichte sind. In diesen Abweichungen dringt etwas von ihr selbst ans Licht.

Essen

Ich unterbreche die Suche nach dem Brief und haste in die Küche. Es ist eine amerikanische Küche: Die Arbeitsplatte ist ein ovales Bord, das in den Wohnraum hineinreicht. Dort spielen sonst die Kinder, manchmal jagen sie die Katze unter den Korbsessel in der Ecke; jetzt liegt sie darauf schwarz auf blauem Fleece. Die Kinder sind mit Ansgar mitgereist, er schenkt mir mit zäher Aufmerksamkeit regelmäßig zwei bis drei Schreib-Räum-Koch-Sortiertage.

Grüner Spargel, weißer Spargel, blassrosa Spargel, daneben beinahe transparente Schalenhüllen. Ich versuche, mich an Omas Spargelrezept zu erinnern. Sie war wohl um die 12 oder 13, als sie es zum ersten Mal ausprobieren durfte. In der Küche auf dem Gut in S?rule?ti, nicht sehr weit von Bukarest. Ein Zug fuhr morgens und abends durch. Der Lokführer kannte Omas Schwester Mitzi. Sie verspätete sich täglich, verwickelte sich in ihre langen Hutbänder, die nach hinten ausflatterten. Täglich wartete der Lokführer auf domni?oara Mitzi, Fräulein Mitzi. Er ließ manchmal Fahrgäste aussteigen und in die schmalen staubigen oder matschigen Gassen hinein nach ihr rufen. Sie kam, konzentrierte Augen unter breiter Hutkrempe: Die weißen Strümpfe sollten weiß bleiben. Der Haushalt in Bukarest, in dem sie Gouvernante war, machte diese besondere Sorgfalt erforderlich. Wenn es matschig war, dann wartete der Lokführer eben noch länger auf Mitzi, Omas Halbschwester, die um einiges älter als sie war.

Als Tochter des Gutsgärtners Johann Weinzettel durfte Oma sich sogar in der Küche von Frau Br?iloiu herumtreiben. Eine rumänische und eine siebenbürgisch-sächsische Köchin belehrten sie in ihrer jeweiligen Sprache. Ciorbas allerdings, die rumänischen sauren Suppen, kochte sie zeitlebens nicht gern, denn sie wusste nicht wie, denn sie hörte tanti M?riuca zwar zu: ein Redefluss, ein Ciorb?fluss, turbulent, feucht aus den Mundwinkeln, die ganze Küche füllte sich unter ihren kräftigen gestikulierenden Armen mit Ciorb?; aber erst wenn das Hauptgewürz Leu?tean in tanti M?riucas imaginäre Ciorba fiel, wusste Lottchen Weinzettel, woran sie war: Sie konnte nun, ohne unhöflich zu sein, in den Hof „Of Weedersen“ entschwinden.

Elsatante verstand sich auf Spargel. Johann Weinzettel hatte das Rezept aus Böhmen über die Walz durch die K&K-Länder verändert mitgebracht: Seine Herrin Frau Br?iloiu, eine Kammerzofe der rumänischen Königin, sollte nicht nur bei Hofe das Rechte speisen. Elsatante verstand sich auf Spargel, und Lottchen Weinzettel verstand sie. Omas vollständiger Name lautete damals Carlotta Violetta Weinzettel, der den evangelischen Pfarrer im siebenbürgischen Heldsdorf dreimal stocken ließ, als er das Kind eines katholischen Vaters und der evangelischen Heldsdörferin Tinni geborene Weidenbächer taufen musste.

Das Rezept. Erinnern kann ich mich erst einmal nicht, und ich habe es mir immer nicht aufgeschrieben, aus Angst, ich würde es dann vergessen. Jetzt habe ich aber auch keine Lust zu telefonieren und Oma zu fragen. Ich entscheide mich schnell: Ich lege den grünen Spargel ungeschält ins kochende Salzwasser. Bei Elisa von Mantano im Kaiserstuhl war es, wohl 1992, da habe ich einmal grünen Spargel mit Butter und Zitrone gegessen, dazu Cidre. Ich esse, um mich zu erinnern; ich erinnere mich, um kochen zu können; ich koche, um die Erinnerung jedes Mal verändern zu können. Jetzt suche ich wieder den Brief. Allerlei andere Papiere, nach mir nicht mehr verständlichen Kriterien vorsortiert, lese ich an, vergesse kurzfristig den Brief an C.C.C., den ich ihm in Anschluss an eine Lesung geschrieben habe. Er blieb ohne Antwort. Hier ist er, ich wische die Kränkung weg und setze mich hin und exzerpiere aus dem Brief, der sich nun wohl eher in ein Stück Fiktion verwandelt. Aber ist er unbeantwortet nicht gleichsam Fiktion geblieben? Die Fiktion eines Dialogs, der, wie sage ich es, es gibt einhändig, einäugig, einbeinig, der Dialog ist also – ein Monolog nun wiederum auch nicht, weil er ja an den realen C.C.C. gerichtet ist – er ist wohl eher einzüngig geblieben. Auf der Mutter- und Vaterzunge, die mir das Heft führt, lasse ich den Spargel zergehen: sparanghel, Spaorghel: Für solche Flausen war eigentlich weder in tanti M?riucas noch in Elsatantes Weltanschauung Platz. Schon gar nicht in den 40ern, als mein Urgroßvater, der respektierte domnul Weinzettel, auf der Sonnenseite des Hofes beharrlich Sandhügel häufte und hoffen wollte, dass keine Bombe die grünen Schleierstauden bis zum Nachbarn zerfetzt verteilen würde.

Grüne Buttertropfen versenken sich in die Kopie des Briefes, das erste C. von C.C.C. sticht nun wie vergrößert und benebelt zugleich hervor, ich koste mit spitzen Fingern Mandarinentropfen auf Spargelspeeren.

Risse 24


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