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Herr Troppikel, eilend.

Ein Roadmoviechen.

Turnusgemäß war es heute Dienstag geworden. Das ist der quälend lange Tag mit ganz viel schlechtem Blümchen-Kaffee aus der Kantine und dem vielen Neonlicht, mit den dicken Stapeln von Konferenzpapieren, wo die Schrift gegen Ende hin immer kleiner und kleiner wird, und kleiner, und keiner interessiert sich wirklich für das, was da vorne vom Katheder aus untermalend zu den Papierstapeln erzählt wird. Herr Troppikel hielt gerade seinen Vortrag über die Sonderstellung des Menschen am Beispiel des Rehs. – Sie müssen sich das so vorstellen, der Mensch ist ja ein Kulturwesen und deswegen macht er aus dem, wo er lebt, was anderes. Das Reh kann das nicht. Das Reh, wo lebt es denn? Im Wald, richtig. Das Reh steht da nun also im Wald, und kann sich nicht mal eben eine Pizza bestellen. Um satt zu werden, muss es vom Wald essen. Das Reh isst nun also ein Stück vom Wald, kaut es gut durch und kaut und so weiter … – Da wurde ruckartig die Tür des Konferenzsaals aufgestoßen. Ein großer, grimmig schauender und ziemlich hungriger Bär stand in der Tür, holte kräftig Luft und fauchte, was das Zeug hielt, bis er mit seiner Luft am Ende war. Dann wiederholte er das Ganze. Es wurde kurz ein wenig langatmig. Der verlegene Herr Troppikel wusste intuitiv, dass man ihn meinte, das Erscheinen des Bärs war ein mehr als eindeutiges Zeichen, wahrscheinlich war sein Vortrag nicht zur vollsten Zufriedenheit aller, dachte Herr Troppikel, und nun, wo schon viele eingeschlafen waren, musste konsequenterweise ein Zeichen her. Es war einfach notwendig geworden. Eine Weile noch zögerte Herr Troppikel, wie er wohl weiterhin auf dieses Zeichen reagieren sollte – der Gedanke, dass er reagieren müsse, war ja schon seine erste Reaktion gewesen. Er besann sich und spielte das Spielchen mit. Etwas lustlos schrie er „Ahh, ein Bär“ und flüchtete durch die der aufgestoßenen Konferenzsaaltür gegenüberliegende Fluchttür. Der Bär, er hatte ja das Angebot zu diesem Spielchen unterbreitet, hetzte derweil quer durch den Konferenzsaal, nicht mehr brüllend, sondern seine Brüllkräfte auf das Hinterherhetzen verwendend, und ab mit ihm durch dieselbe Fluchttür. Auf den Stufen des Treppenaufgangs hatte Herr Troppikel, als Zweibeiner, noch klare Vorteile. Einen lichten Moment kurz innerlich entspannt dachte Herr Troppikel bei sich: Gottseidank bin ich als Sonderwesen Mensch mit zwei Beinen ausgestattet, das ist beim Treppenlaufen ein klarer Vorteil. Unten angekommen hatte Herr Troppikel einen Vorsprung, der ihm fatalerweise eine Sicherheit suggerierte, die nur von kurzer Dauer sein konnte. Herr Troppikel eilte durch das Foyer weiter, raus aus dem Gebäude, die große Hauptstraße entlang, auf jeden Fall weg vom Konferenzzentrum. Etwa eine volle Minute später erst kam der Bär aus der Tür des Treppenaufgangs in das Foyer gestrauchelt, kriegte die Kurve nur knapp, und dann nix wie raus auf die Straße. Am Horizont noch sah er Herrn Troppikel. Er fauchte einmal kurz auf, um daran zu erinnern, dass auch weiterhin mit ihm zu rechnen sei, und eilte Herrn Troppikel hinterher.

Derweil kamen im Konferenzsaal die völlig verängstigten Seminarteilnehmer hinter den überdimensionierten Kunstpflanzen, Papierstapeln und Kaffeebechern hervor ans Neonlicht gekrochen und versicherten sich gegenseitig, dass sie nicht verrückt seien und ausnahmslos alle gerade ein eindeutig als Bär zu identifizierendes Tier gesehen hätten und dass ihnen das eh keiner glauben würde, weshalb man niemandem erzählen solle, man hätte hier einen Bären gesehen. „Hat jemand Herrn Troppikel gesehen?“, fragte die bulimische Praktikantin. Man einigte sich, auch Herrn Troppikel, aufgrund der schmerzhaften Erfahrungen mit seinen schlechten Vorträgen, niemals mehr zu erwähnen, und wenn man in Zukunft nach ihm gefragt würde, laut „Ach ja“ zu sagen und dann wegzulaufen. Die Praktikantin, gar nicht dumm, fragte nun, wer überhaupt dieser Herr Troppi-wer-auch-immer sei. Man hatte ihn schon vergessen, quasi im Handumdrehen.

Den Rückweg durch fiese Kollegen ohnehin verbaut, kam Herr Troppikel schnaufend und etwas verstört bei einer Straßenbahnhaltestelle an. Gerade kam wie auf Bestellung eine Bahn. Der Bär war schon in Sichtweite. Wie verrückt drückte Herr Troppikel den Knopf zur Öffnung der Tür. Träge ging sie auf. Herr Troppikel stürzte in die Bahn. Der Bär war da, wollte einen Fuß reinsetzen, besann sich, dreht sich um, stürzte auf den Fahrkartenautomaten zu, drückte ein paar Knöpfe. Als er verzweifelt Kleingeld in seiner Tasche suchte und nun mit roher Gewalt einen alten Hemdknopf in den Münzenschlitz nötigte, schlossen sich die Türen der Straßenbahn, und sie fuhr ab. Der Bär schimpfte und wurde zurückgelassen. Herr Troppikel sank auf seinem Sitz zusammen, er war wohl auch einen Moment lang bewusstlos.

Als Herr Troppikel sechs Stationen später wieder zu sich kam, fühlte er sich nahezu wie neu geboren. Alles konnte neu beginnen, dachte er bei sich, verhalten optimistisch und ohne innerlich zu große Worte an sich selbst richten zu wollen, aber doch, sagte sich Herr Troppikel, man müsste mal wieder eine längere Verschnaufpause in das Leben einplanen. Die Sonne blitzte durch die Blätter der Bäume der Allee der Weststadt, durch die die Straßenbahn gerade fuhr. Herr Troppikel blickte auf die parallel zu den Schienen verlaufende Straße. Er winkte den kleinen übergewichtigen Kindern, die gerade neben ihm in einem Schulbus in Richtung Stadtpark fuhren. Die Kinder winkten nicht zurück. Die Kinder zogen Fratzen. Herr Troppikel zog eine Fratze zurück. Eines der Kinder zeigte mit dem Finger ganz durchdringend, ja durchbohrend und nahezu beschämend eindeutig auf Herrn Troppikel. Er verstand nicht recht, bis er es spaßeshalber als Aufforderung wertete, sich umzudrehen. Auf der anderen Straßenseite fuhr der Bär auf einem Motorrad gegen die Fahrtrichtung und winkte herüber, erst freudig lächelnd, dann mit einer verbissenen Miene als gesichtsgetanzter Kampfansage. Sich bedankend schaute Herr Troppikel zu den aufmerksamen Kindern rüber, die wieder Fratzen zogen. Später ist ihr Bus dann explodiert und hat so gut wie keine Lücke gerissen. Der Bär ging nun aufs Ganze. Immer dichter fuhr er an die Straßenbahn ran, dann der erste Kontakt: Er rammte die Bahn mit seinen verstärkten Flanken. Herrn Troppikel stand sofort die nackte Angst ins nackte Gesicht geschrieben. Was will dieser Bär bloß? Herr Troppikel stürmte nach vorne zum Führerhäuschen der Straßenbahn, ließ sich von dem sehr sehr alten Fahrer das Lenkrad geben und konterte die Attacken des Bären, indem er kräftig dagegenhielt. Funken flogen. Dabei kokelte dem Bären das Fell ein wenig an. Dann fiel er zurück. Etwas überrascht starrte der Bär auf die Kraftstoffanzeige des Motorrades, das er vorhin geklaut hatte: fast leer. Umschalten auf Reserve? ZACK. Auch fast leer. Der Motor stotterte ein Kraftstoffsonett und entschlief pünktlich nach dem zweiten Terzett. Der Bär blieb mitten in der Rush Hour mit seinem Gefährt liegen. Herr Troppikel wollte nur noch Sicherheit. Endlich raus hier und Sicherheit. Da kam ihm eine Idee: Er am Steuer fuhr mit der Straßenbahn geradewegs in sein Wohnzimmer, stieg aus, suchte den großen Atlas, blätterte schnell den großen Atlas durch und legte sich erst fest und dann den großen Atlas mühevoll beiseite …

Er ruderte nun schon seit vier Wochen. Rudern – das ist sicher, dachte Herr Troppikel etwas apathisch und lethargisch, von den Wochen auf weiter See innerlich noch stumpfer geworden, als er durch die jahrelangen Seminare ohnehin schon war, wiederholte Herr Troppikel zu seinem imaginären Freund, was in Wirklichkeit ein alter Fischkadaver war: „Rudern ist sicher, nicht wahr, mein alter Dschordsch Dabbeljuh?“ Der Fisch nickte. In öffentlichen Verkehrsmitteln ist man nie ganz sicher, das wusste Herr Troppikel mittlerweile. Ich muss ganz ganz weit weg, sagte er immer wieder, ohne dass es einer hörte, zumindest hat ein Ohrenzeuge das später berichtet. Ganz weit. Rudern. In einem kleinen Boot, und ich habe niemandem gesagt, wohin, sagte er zu Dschordsch.

Eine Woche später landete Herr Troppikel an der flachen Sandküste einer kleinen Insel. Er kniete auf dem weißen Sand und dankte irgendwem für den glücklichen Ausgang dieser Reise. Er war nun also auf einer einsamen Südseeinsel angekommen. Sah sich um, ruhige Weiten, ob es hier wohl Rehe gibt?, sah einen niedlich vor sich hin plätschernden Wasserfall, kleine Äffchen, tropische Vögelchen, deren Federn glänzten wie die schönsten Regenbogen, in tausenden Facetten, ein strahlend blauer Himmel mit kleinen weißen Wölkchen, die ihn freundlich anlächelten, ein azurblaues Meer mit strahlend roten Korallen und kleinen gelben Fischen, die tanzten. Rosa Früchte mit orangefarbenen Punkten baumelten niedlich und zufrieden an mannshohen Büschen, so weit das Auge reicht Natur, wildwüchsige Natur, hohe Palmen direkt am Wasser, von denen reife Kokosnüsse im Minutentakt herunterfielen, Herrn Troppikel direkt in die Hände. Dicht am Strand eine Wäscheleine, auf der jemand, möglicherweise ein Ureinwohner, ein Fell zum Trocknen aufgehängt hatte. Von hier sah es aus wie ein Bärenfell. BÄRENFELL? Wir wissen was, was er nicht weiß.

Aus der Nähe war die angekokelte Stelle im Fell nicht zu übersehen. Damit der Bär nicht nackt rumrennen musste, hatte er sich einen Lendenschurz aus Palmenblättern geknotet. Der Bär war gerade nicht in Reichweite. Herr Troppikel hatte eine Idee: Er hängte seine Klamotten über die Leine und zog sich dafür das Bärenfell an. Als der Bär wiederkam, sah er, dass sein Fell nicht mehr da war, dafür aber die Sachen von Herrn Troppikel über der Leine hingen. Er wusste also, dass er da sein musste. Dabei hatte auch der Bär sich nichts sehnlicher gewünscht, als endlich nicht mehr Herrn Troppikel hinterherrennen zu müssen und mal ein bisschen Urlaub machen zu können, und da hatte der Bär in seiner ganzen Naivität doch gedacht, dass Herr Troppikel niemals rudern, sondern höchstens mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren würde. Das war zu naiv gedacht, lieber Bär. Nun saß Herr Troppikel am längeren Hebel. Wie du mir, so ich dir. Reißverschluss zugezogen, und schon war kaum ein Unterschied mehr zu einem echten Bären. Kleider machen Leute. Äh, Kleider machen Bären, sagte er bei sich und versuchte, so zu denken, wie ein Bär jetzt wohl denken würde – Wie würde ein Mensch, der von einem Bären verfolgt wird und sich zur Rache selbst als Bär verkleidet, um dann als derjenige Bär, von dem er verfolgt wurde, sich als er selbst zu hauen als Strafe dafür, dass er von sich selbst verfolgt wurde, als er noch nicht er war … oh-Mann, da hab ich mir ja was vorgenommen, dachte Herr Troppikel und fing eilig an, sich selbst zu züchtigen, böser Bär, sagte er zu sich, ganz ganz böser Bär, hältst du mich von meiner Arbeit ab, du böses Tier. – Der Bär war schockiert, als er sah, dass jemand in seiner Haut steckte und sie, also ihn quasi in absentia, gerade züchtigte. Wie ein Bär ohne Fell und mit einem Palmenlendenschurz aussieht, brauchen wir hier nicht zu erwähnen, fest steht, dass er Herrn Troppikel nicht sehr unähnlich war. Der Bär stürzte auf sein Fell zu, zog den Reißverschluss auf, schmiss den gerade so schön im Züchtigungsrhythmus angekommenen Herrn Troppikel raus und schlüpfte selbst hinein. Dann holte er tief Luft und fauchte ihn auf das Grimmigste an, um ihm zu verstehen zu geben, er möge doch Angst haben. Herr Troppikel hatte keine Angst mehr. Er wollte jetzt nur noch Spielverderber sein, das Ganze nicht mehr mitmachen, dieses ewige Hintereinanderhergerenne und all das, was einem im trockenen Seminaralltag nach der Laune auch noch die Luft nimmt. Der Bär fauchte. Der Bär fauchte. Ich sagte, der Bär fauchte. „Schnauze, Bär“, sagte Herr Troppikel. Der Bär hielt kurz inne. Da sagte der Bär, er hätte noch gar nicht gefragt, ob er den richtigen Herrn verfolge. Sie sind doch Herr Troppikel? – Nein ich bin Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinski. – Aha, sagte der Bär, Aha, der Bär sagte einfach nur Aha, einfach nur. Und Soso auch.

Dann passierte noch einiges, vieles davon gottseidank versöhnlich. Die beiden Protagonisten wurden sich ihrer Schicksalsgemeinschaft bewusst und ließen von vielem ab, das ihnen den Alltag bis dato vergrämt hatte.

Wie Herr Troppikel und der Bär so am Strand dieses niedlichen Eilands lagen und bunte Cocktails tranken, deren Farben aussahen wie wichtige Stellen, die man in einem Text markiert hat, schlugen neben ihnen die niedlich blinkenden und glitzernden Teile eines explodiertes Bus’ auf den weißen Sand auf.

Was der von diesem Anblick entspannte Herr Troppikel nicht wusste, dass seine Kollegen sich schon einen Ersatz für ihn gewählt hatten: Der Straßenbahnfahrer hielt gerade seinen Antrittsvortrag über „Problematische Beförderungssituationen am Beispiel von Herrn T.“ Von den ehemaligen Kollegen kam kein ahnendes Raunen mehr aufgrund dieses Namenskürzels, nur die in der ersten Reihe sitzende Gastdelegation der Bären war durchweg hellauf begeistert. Bald danach aber war Herr Troppikel genauso vergessen wie diese denkwürdige Episode. Er war einfach verloren gegangen. Ich glaube, er lebt auch schon nicht mehr, der gute alte Herr T.

Risse 24


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