Beim langsamen Ausbrennen mussten eines Tages auch die Bremsen in unseren Köpfen in Mitleidenschaft gezogen worden sein. Die schon oft erwogene Abordnung war schnell zusammengestellt: Außer Julia und mir, die wir abwechselnd den Kleinbus steuern wollten, sollten Danilo, Tina, Norbert, Aaron, Denise, Enno und Ricarda mitkommen. Es fielen zwar noch etliche andere Namen, jedoch gab es nicht mehr Sitzplätze, und mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu reisen wäre ein zu hohes Risiko gewesen.
Abgesehen davon, dass die meisten gern vorn bei mir oder neben Julia und einige auf gar keinen oder aber jeden Fall nebeneinander sitzen wollten beziehungsweise sollten, verlief das Einsteigen ohne nennenswerte Zwischenfälle. Fast schien es, als hätten alle beschlossen, die persönlichen Interessen um des gemeinsamen Anliegens willen vorübergehend hintan zu stellen. Sogar die von mir eingelegte Musikkassette wurde ohne Murren akzeptiert.
Als wir endlich die Autobahn erreichten, gehörte das laute Mitsingen bereits der Vergangenheit an. Auch brauchte ich „Schön ist es, auf der Welt zu sein“ kein weiteres Mal zu suchen. Danilo und Enno, die beiden Ältesten, hatten sich an Julia gekuschelt, Denise schien eingeschlafen zu sein. Aaron, der Jüngste, plapperte vor sich hin. Die siebzehnjährige Ricarda starrte mit triefendem Mund aus dem Fenster. Und des neunjährigen Norberts sonst so schwer zu bindende Aufmerksamkeit war seit Minuten auf die gleichaltrige Tina gerichtet.
Weil ich diesen Frieden nicht stören wollte und wusste, dass die Inkontinenten unserer Busbesatzung halbwegs verlässliche Windeln trugen, verzichtete ich trotz meiner eigenen Bedürfnislage darauf, unterwegs haltzumachen. Um mich abzulenken, formulierte ich in Gedanken eine Erklärung für unsere Aktion, deren einleitender Satz besagte, dass der Vorwurf, einem anbefohlene Menschen zu instrumentalisieren, nicht greifen könne, wenn diese Menschen dazu benutzt würden, ihre eigenen Verhältnisse zu verbessern.
Dank unseres Aufklebers fanden wir einen Parkplatz in der Nähe des Ministeriums, und ich sah uns schon als imposante Delegation an der Pförtnerloge vorbeimarschieren. Jedoch verbrachten wir etliche Minuten damit, Enno aus dem Auto zu locken, dessen Körpergewicht, pathologische Kraft und Schwerhörigkeit unsere ganze Kreativität forderte. Währenddessen hatte Norbert bereits einige Mercedessterne auf ihre Befestigung hin überprüft, Aaron war nur durch Tinas Umsicht daran gehindert worden, bei Rot über die Straße zu flitzen, und die halbwüchsige Denise hatte sämtlichen Leuten im näheren Umkreis mit schaukelndem Röckchen ihre persönlichen Daten mitgeteilt.
Julia nahm Enno und Aaron fest an die Hand, ich Ricarda und Norbert. Danilo, Denise und Tina mussten wir zutrauen, beim Überqueren der Fahrbahn auf sich selbst aufzupassen. Bevor wir losgingen, wollte ich Ricarda aus Gewohnheit ersuchen, sich das Kinn abzuwischen, entschied mich aber anders. Als wir schon fast auf der anderen Seite waren, rief Norbert „Verfickte, Mutter leckende Tina!“, worauf die Beleidigte auf ihn zu stürzte und ihn trotz meiner und Julias Gegenwart ausgiebig mit Fußtritten und Faustschlägen attackierte.
Bei Ricarda hatte unterdessen das ruckartige Herumreißen des Kopfes, ein uns sattsam bekanntes Vorspiel, eingesetzt, dessen unangenehmer Nebeneffekt darin bestand, dass die Sekrete aus ihrer Nase und ihrem Mund meterweit geschleudert wurden. Noch bevor die weißbebluste Dame am Einlass unsere Ausweise verlangen konnte, klebten zwei lange Streifen Rotz an der Scheibe, hinter der sie verschanzt war. Mit dem ehrlich gemeinten, durch die Sprechluke gesäuselten Kompliment: „Sie haben aber ein schönes Hemd an“, leistete Danilo den nächsten Beitrag zu unserer Identifizierung.
Aber die Staatsbedienstete bestand nicht nur darauf, unsere Dokumente zu sehen, sondern wollte auch wissen, mit wem wir verabredet wären. Während ich, wofür ich Ricarda und Norbert loslassen musste, nach meinem Personalausweis kramte, trällerte Denise wieder und wieder: „Ich bin die Denise Schulze, ich bin elf Jahre alt, ich wohne in der Bergstraße“, wobei sie sich unermüdlich vor der spiegelnden Pförtnerloge drehte und wendete. Die weniger duldsame Tina jedoch trommelte plötzlich mit den Fäusten gegen das Sicherheitsglas und forderte mit der Stimme eines Marktweibes: „Hei asse, böde Duh, wi wonn o ma meddan!“
„Was machen die beiden Jungen da?“, fragte die Pförtnerin mit langsam aufkeimender Panik im Blick und wies durch die Rotzschlieren zu einem Aufsteller mit Broschüren, die gerade von Norbert zu Flugblättern und von Aaron zu Konfetti umgewidmet wurden. Es gelang mir, Ricarda, deren Sekretproduktion weiter auf Hochtouren lief, in einen Sessel zu drücken, um zum Ort des Vandalismus zu eilen, wo mir wenig später auch Julia zur Hilfe kam. Als wir dabei waren, Norbert und Aaron zu nötigen, die Hochglanzversprechungen wieder einzusortieren, läutete einige Schritte entfernt die Fahrstuhlglocke.
„Enno ist weg“, rief Julia, womit schlagartig klar war, dass uns die Dame in Weiß gestohlen bleiben konnte. Ich griff mir die protestierende Ricarda und den bambulefrohen Norbert. Julia trieb die übrigen vor sich her zum zweiten Aufzug.
„Muss pullern!“, vermeldete Aaron, noch bevor die Türen sich geschlossen hatten, und fand in Gestalt von Danilo, Denise und mir drei spontan Gleichgesinnte.
„Fahrt allein!“, entschied ich, und riss, da sich im Foyer eine Toilette befand, die drei Bedürftigen wieder aus dem Lift.
Beim Treppensteigen, das Aaron und Denise noch immer nur im Nachstellschritt bewältigten, fand ich viel Zeit zum Überlegen. Im Grunde genommen hatten wir auf Ennos Fahrstuhlausflug vollkommen unprofessionell reagiert, denn da er stets möglichst ausgedehnte Liftreisen unternahm, ihm also der Weg das Ziel war, sprach viel dafür, dass er beständig hoch und wieder runter fuhr, solange ihn niemand oder nichts daran hinderte. Und wer außer uns wäre dazu in der Lage gewesen? Wir hätten also, zumindest was Enno betraf, ebenso gut unten bleiben können. Dass wir uns stattdessen alle aufwärts bewegten, musste etwas mit unserem Bestreben, zum Minister zu gelangen, zu tun haben, den wir anscheinend instinktiv, aber womöglich fälschlicherweise – denn schließlich war ein Minister ja kein Gott – in der obersten Etage vermuteten. Wir wussten ja nicht einmal, ob er sich überhaupt im Hause befand, und wenn, ob wir tatsächlich zu ihm vordringen würden, um sagen zu können: „Guten Tag, hier sehen Sie den Betreuungsschlüssel, den wir gern hätten. Normalerweise sind wir beide noch für sieben weitere Behinderte verantwortlich.“
In der dritten Etage reichte es mir mit der Gangart, und wir verließen das Treppenhaus. Danilo war entzückt, auf dem langen Büroflur so vielen seiner Komplimente würdigen Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts zu begegnen, und Denise, sich alle paar Meter von neuem spreizen und vorstellen zu können. Lediglich, was Aarons Verfassung betraf, machte ich mir Gedanken, denn er begann unvermittelt zu japsen, versuchte sich mit wachsender Kraft von meiner Hand loszureißen und stieß schließlich eine Litanei gegen sich selbst gerichteter Zurechtweisungen aus, bevor er sich zu Boden fallen ließ und wild um sich schlug.
„Was ist hier nur los heute?!“, sagte eine irritierte, eilig beiseite springende Ministerialbedienstete, die gerade den Aufzug verlassen hatte, und erwähnte, dass auf dem Gang in der Fünften eine junge Frau läge, die auf ganz ähnliche Weise rase und es fertig brächte, sich mit den Fingernägeln die Arme blutig zu kratzen. Ach, Mensch, Julia, dachte ich und sah sie gemeinsam mit der entsetzten Tina und dem faszinierten Norbert in sicherer Entfernung zu Ricarda stehen, gegen deren Anfälle von Selbstzerfleischung trotz mehrerer Aufenthalte in der Psychiatrie bisher kein Mittel gefunden worden war.
Um zur Hilfe eilen zu können, musste ich erst Aaron beruhigen und tat es mit Schmerzen, indem ich wider besseren Wissens behauptete, dass ihn seine Mutti am nächsten Tag abholen käme, was ihn nicht nur dazu veranlasste, schlagartig friedlich zu werden, sondern in seiner Vorfreude sogar ausgelassen in die Hände zu klatschen. Wenig später saß ich auf Ricardas Brustkorb, drückte ihr die rot glänzenden Arme über den Kopf und presste meine Knie mit ganzer Kraft in ihre Ellenbeugen. Als Denise dem wachsenden Publikum gegenüber mit ihrer Vorstellungsrunde beginnen wollte, hielt die zitternde Julia ihr einfach den Mund zu.
Während ich Minuten darauf noch immer auf Ricarda hockte, deren Raserei dadurch erfahrungsgemäß keineswegs verkürzt, wohl aber in ihrer Blutigkeit gemildert wurde, hatte Julia trotz ihrer Alleinverantwortung für die übrigen Fünf die Geistesgegenwart besessen, die Ratlosigkeit der Umstehenden teils in Aktivismus, teils in aufkeimende Heilserwartung zu verwandeln, indem sie, als gelte es, außer den zahlreichen nutzlosen Gaffern auch schleunigst einen Spezialisten vor Ort zu bekommen, lauthals schrie: „Sehen Sie denn nicht, dass wir den Minister brauchen? Der Minister muss her!“
Er kam, als Norbert im Hintergrund des Hauptgeschehens bereits einige Computer entkabelt, Danilo etlichen Sachbearbeiterinnen den Hintern getätschelt und Aaron mehrere Bürotüren mit seinem Kot beschmiert hatte. „Da dib Aada!“, konstatierte Tina, denn er kam nicht allein: In der so innigen wie atemberaubenden Umklammerung des Fahrstuhlreisenden Enno, der mittlerweile außer seiner üppigen Körperbehaarung nur noch die grüne Windelhose trug, fuhr der Staatsmann in Begleitung zweier weiterer ratloser Herren in den fünften Stock ein, wo ihn ein zunächst erwartungsfrohes dann mehrheitlich von jähem Entsetzen gepacktes Empfangskomitee willkommen hieß.
Es waren weder Julia noch ich geschweige denn die beiden den so gut wie tauben Enno mit verbalen Drohungen überfordernden Begleitbeamten, denen es gelang, den Minister aus dem Schwitzkasten zu befreien. Es war Denise, die einfach nur mit dem Röckchen schaukelte, ihre Lippen spitzte und Enno, der den Schlipsträger fallen ließ wie ein langweilig gewordenes Spielzeug, aus dem Aufzug lockte. Da die Sorge um das Ergehen des nach Luft Schnappenden allerdings größer war als die Sorge um unser Befinden, erhielt ich statt der Gelegenheit, unser Anliegen vorzubringen, die Aufforderung, zur Aufnahme eines Schadenprotokolls allein in eines der Büros zu kommen.
„Setzt euch bitte genau so wie vorhin“, sagte ich, als wir den Parkplatz betraten, und musste meiner Weisung keinerlei Nachdruck verleihen.
„Sollte ich jetzt nicht eigentlich fahren?“, fragte Julia, auf deren schmalen Schultern bereits nach wenigen Metern die Köpfe von Enno und Danilo lagen.
„Lass mal, ich bin hellwach“, entgegnete ich und sah zu, dass ich Land gewann. Auf der Autobahn spürte ich langsam meinen Kampfgeist zurückkehren. „Wir müssen“, verkündete ich in den Rückspiegel, „beim nächsten Mal unbedingt Fredi mitnehmen!“
„Den Pyro- oder den Kleptomanen?“, erkundigte sich Julia, aber ich erkannte am Lodern in ihren Augen, dass sie wusste, welchen von beiden ich meinte.
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