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Mehr nicht. Und nicht weniger

(Aus einem Romanmanuskript)

Thea erhob sich und stöhnte auf dabei. Sie stützte sich mit der Hand auf den Tisch, um dem schmerzenden Fuß nicht gleich das gesamte Körpergewicht zuzumuten, um einen Ausgleich zu schaffen, bis sie in die Gänge gekommen war, wie sie es nannte.
Auf dem Tisch lagen Bücher und Zeitschriften, Stifte und Blöcke, Zettel mit Notizen, ein paar Hühnergötter und unzählige Lesezeichen von einem Kalender. Zum Fenster hin stand eine Vase mit einem Hagebuttenzweig. Ein Foto von Relda lehnte daran.
Und an einer Ecke des Tisches, an die Thea, auf dem Bett sitzend, ohne dass sie aufstehen musste, herankam, stand der Anfang vom Alter.
Der Anfang vom Alter bestand aus einer Packung Schmerztabletten, die schon zur Hälfte aus der Folie gedrückt waren, aus einem Glas Mineralwasser und aus einer Flasche Franzbranntwein. Manchmal ergänzte noch eine auf dem Boden liegende Wärmflasche, die Thea im Halbschlaf aus dem Bett gelegt hatte, das Bild der beginnenden Gebrechlichkeit.
[…]
Es war stürmisch in dieser Nacht. Am Vorabend hatte es im Anschluss der Nachrichten eine Unwetterwarnung gegeben.
Thea lauschte den tosenden Geräuschen. Die Baumkronen vor ihrem Fenster warfen bewegte Schatten auf die Front des Kleiderschrankes. Wild huschten sie in unaufhörlichem Tanz auf der glatten Fläche umher und entwarfen nervöse Bilder. In der Ferne schlug eine Autotür zu, näher, wohl unten vor der Hautür, schepperte etwas blechern über den Asphalt. Die Übergardinen bewegten sich sacht, trotz geschlossener Fenster.
Thea empfand Dankbarkeit für Dach und Bett und Brot. Schon immer empfand sie die besonders, wenn es draußen unwirtlich war.
Auch zu Zeiten, da sich das Leben nach Theas Verständnis noch oberhalb des Baches befand und es ganz undenkbar war, dass es denselben jemals würde heruntergehen können, hatte Thea oft die Wärme von Sicherheit gespürt. Jetzt, nachdem es sich doch bachabwärts umschaute und Thea kurz vor ihrem 50. Geburtstag stand, war die Sicherheit ungewiss geworden, und das Begehren nach ihr übte sich in Bescheidenheit.
Fünfzig Jahre, dachte Thea, im Sommer sind es fünfzig Jahre. Was erwartet man da so gewöhnlicherweise? Eine große Feier mit oberflächlichen Sprüchen und einem Drei-Gänge-Menü? Einen Familien- und Freundesauflauf mit Blumen und hausgemachtem Kulturprogramm zu späterer Stunde, schön lustig, ein bisschen frivol vielleicht? Womöglich gar eine selbst gedichtete Festzeitung? Den Auftritt fein gemachter, erwachsener Kinder, mit noch feiner gemachten Enkelkindern? Aber das würde man von ihr wohl nicht erwarten, das war mit ihr so gut wie nicht möglich. Das musste allen klar sein.
Für die Umwelt war Theas Leben fragwürdig geworden. Thea allerdings empfand ihr Leben am fragwürdigsten, als alle anderen es für in Ordnung hielten.

Es war die Zeit, als Thea auf die 30 zuging und in ihrem Leben alles stagnierte, aber doch irgendwie so weitergehen würde. Also es würde sich schon in einer Bewegung befinden, in einer ebenmäßigen, vorhersehbaren, erwarteten, belanglosen, aber sicheren Bewegung.
Thea hatte alles erledigt. Das Studium war abgeschlossen, der Arbeitsplatz, der fürs ganze Leben sein sollte, war nach dem zweiten Anlauf gefunden, ein Mann, der sie geheiratet hatte, ebenso, wenn auch nicht gleich im zweiten Versuch. Sie hatte Tochter und Sohn gekriegt und zu guter Letzt sogar eine Wohnung erkämpft oder besser, geduldig ausgeharrt, bis sie, Thea, an der Reihe war. Zwar hatte die Wohnung ein Zimmer zu wenig, aber sie würde ausreichend sein, und später, nachdem sich alles ebenmäßig, vorhersehbar, erwartet und belanglos, aber sicher weiterbewegt hätte bis die Kinder einmal ausziehen würden, um ihrerseits ein eigenes vorhersehbares Leben zu leben, würde die Wohnung für Thea und den Mann ein gutes Tauschobjekt darstellen.
So sollte es sein, so gehörte es sich, so lief seinerzeit anständiges Leben. Deshalb merkte Thea auch lange Zeit nicht, wie ungeeignet das anständige Leben für sie war, oder wie ungeeignet Thea für ein anständiges Leben war.
[…]
Ein anderes Leben zu führen, konnte Thea sich erst vorstellen, als sie dieses schon am Hals hatte, als alles, was man zu erstreben ihr anerzogen hatte, erreicht war, und eigentlich nichts mehr zu ändern.
Den ganz kurzen Moment, in dem alle Möglichkeiten offen liegen, in dem man vielleicht etwas entscheidet, hatte Thea gar nicht wahrgenommen. Und im Übrigen hatte man ihr von anderen Möglichkeiten nichts gesagt. Wenn sie einem doch begegneten, besprach man sie verlegen, hinter vorgehaltener Hand, um sie schnell abzutun. Menschen, die allein lebten, taten das nicht freiwillig, und man bemitleidete sie, andere in gleichgeschlechtlichen Beziehungen wurden bestenfalls belächelt und nicht ernst genommen. Bestenfalls.
Thea hatte nichts entschieden. Sie hatte erfüllt, worauf von Anfang an alles hinauslief.
Niemand hatte es von ihr verlangt, aber alle haben es erwartet. Thea auch.
[…]
Die ersten Leichen, die man sich im Laufe des Lebens in den Keller packt, sind wahrscheinlich gar nicht richtig tot, denkt Thea. Aber mit beinahe fünfzig kennt man seine erste Leiche nicht mal mehr mit Namen. Es sammelt sich halt in den Jahren. Thea macht sich da schon lange nichts mehr vor. Und doch wäre es interessant zu ergründen, wann und wieso so etwas anfängt. Wann lädt man die erste Schuld auf sich, wenn man gegen seine Überzeugung sagt, man habe seine Mutter gern? Und ist das schon die eigene Schuld, oder ist das noch die Schuld der Mutter, weil die das erwartet, und insgeheim doch auch weiß, dass es nicht stimmt, wenn es nicht stimmt. Oder ist es die Summe der kleinen Lügen und Ausflüchte, ohne die man gar nicht überleben kann, und mit denen man sich doch zumeist selbst mehr hereinreitet als irgendwo heraus? Oder gehört das alles noch zum normalen Erwachsenwerden? Und schlägt man sein erstes Kreuz in den Keller mit dem ersten Geheimnis, das niemanden etwas angeht, sei es eine unzulässige Liebe oder eine Lüge oder eine Tat, derer man sich niemals erinnern möchte?
[…]
Als Thea und Relda sich kennenlernten und anfingen, sich die Geschichten ihrer Herkunft zu erzählen, hatten sie manchmal das Gefühl, sie seien nach der Geburt getrennte Zwillinge. Zu sehr ähnelten sich die Lebensumstände und die Beschreibungen der Gefühlswelt ihrer Kinderzeiten. Großmutterkinder. Ungeliebte Töchter, ewig um die Liebe der Mutter buhlend, und immer glücklos dabei. Dafür aber wenigstens Vaters Liebling. Allerdings reichte das nicht. Und als die Väter mit dem Saufen anfingen, wurde das Verwandtschaftsverhältnis sachlich, und als sie damit gar nicht mehr aufhören konnten, war es eher eine peinliche Angelegenheit geworden.
[…]
Wenn man in seiner dritten Liebe war, waren die biologisch besten Jahre schon an die Irrtümer gegangen. Da war man sich darüber im Klaren, dass es nun an der Zeit war, das Leben wirklich losgehen zu lassen, wenn es noch eines werden sollte.
Relda mochte der Aussage mit den Irrtümern nicht ganz zustimmen. Sie war ihr zu radikal. Auch Relda erwartete, dass das Leben am Ende schön gewesen sein sollte. Das bisherige wollte sie durch das Wort Irrtum nicht als ungültig abgetan wissen.
Aber Thea war oft so unnachgiebig in solchen Wahrheitsangelegenheiten, auch gegen sich selbst. Es würde doch keine dritte Liebe gegeben haben, beharrte sie, wenn die zweite und davor schon die erste nicht ein Irrtum waren. Thea mochte es, die Dinge so unmissverständlich beim Namen zu nennen. Seit sie mit dem Schreiben begonnen hatte, hatte sie sich selbst bei der Wahrheit mit einem etwas pubertären Eid unter Vertrag genommen. Zwar hatte sie damals ihr Schreibvater auf die Einsamkeit eines Schreibers, der es ernst meinte, hingewiesen, aber da waren noch keine konkreten Sätze entstanden, da hatten sich noch keine Erkenntnisse etabliert, da war noch niemand, der angegriffen wurde und durch Thea in Frage gestellt. Da waren noch die nun nie wiederkehrende Freude und das Erstauntsein über die plötzliche Klarsicht, dass man das Verlogene, gerade erst entdeckt, nun zu überführen bereit war. Den herrlich euphorischen Leichtsinn der Jugend sicher im Gepäck. Und vor allem war da noch die naive unerschütterliche Gewissheit, dass die Wahrheit einem selbst nichts würde anhaben können. Da war man noch miteinander befreundet.
Alles andere war später gekommen. Zum Beispiel die Erkenntnis, dass die Wahrheit manchmal niemandem nützte und sich nur um ihrer selbst Willen ans Licht drängte. Und auch die Tatsache, dass sie einen verletzenden Charakter hatte, dass sie Schmerzen zufügte und dass sie einem unbarmherzig auf der Seele lag, wenn sie sich nicht ausgesprochen fühlte. Nicht umsonst schleppen die Menschen sich, seit sie denken können, mit Lügen herum. Allerdings, die Wahrheit hatte auch etwas sehr Reinigendes. Man war erleichtert, wenn man sie an jemanden losgeworden war. Nicht immer stand man vor einem Scherbenhaufen, es kam auch vor, dass man sich wie nach einer Krankheit plötzlich morgenfrisch fühlte und leichtfüßig seinen Weg gehen konnte, weil man für eine Weile wusste, woran man war.
[…]
Thea indes rang mit sich, ob sie lesen sollte oder aufstehen, den Fernseher einschalten, um sich abzulenken oder ob sie weiterhin um Schlaf ringen sollte, obwohl sie doch wusste, dass die Stunde längst noch nicht gekommen war, da er sich wieder einstellen würde. Die Erfahrung besagte, dass er kurz vor dem Morgen kommen würde, wenn es noch nicht ganz Zeit war, aufzustehen und den Tag zu beginnen, es sich aber eigentlich auch nicht mehr lohnte, noch fest einzuschlafen. Dann würde der Schlaf sich die Ehre geben, Thea zu Ruhe und Erholung zu bitten. Und er würde sich schwer und Besitz ergreifend über sie legen und sie in eine traumlose Lähmung schicken. Seit Jahren ist Thea uneins mit ihm.
Und wie alles Geschehen in ihrem Leben hat auch diese Zwietracht ihren Tribut gefordert, und hat sich Platz geschafft in vorzeitigen Augenringen, unbegründeten Erschöpfungszuständen und anderen Alterserscheinungen. Sie kamen zu Thea wie sie zu allen kamen, und nisteten sich als ungebetene Gäste ein. Und je deutlicher man ihnen kundtat, wie unerwünscht sie waren, umso zudringlicher wurden sie. Und wenn man sich an die ständige Anwesenheit einiger von ihnen gerade gewöhnt und sich damit arrangiert hatte, dann hatten sie längst durch ein Hintertürchen schon ein neues Mitglied ihrer schmarotzenden Sippschaft eingeschleust.
Wann war das, da man morgens erwachte und nichts tat einem weh? War das, oder hatte man nur davon gelesen?
Aber Thea erinnert sich, wie unberührt sie einst mit dem Alter, da es sie noch lediglich theoretisch etwas anging, umgegangen war. Das war möglicherweise töricht, aber auch ihr gutes Recht. Denn was hätte es genützt, sich vor der Zeit den Kopf zu zerbrechen? Sowieso gehörte Thea zu denen, die immer auf Seiten der Grille waren, die im Sommer aufspielte und sich um den Winter nicht scherte. Sorglos war das nicht. Brotlos hingegen allemal.
Die Vorausschauenden, die ewig Vernünftigen, waren schon sommers vor lauter Vorsorge wintergrau. Die sparten und horteten und weckten ein und versicherten sich und hatten Angst. Und sie hoben selbst das auf, was sie nie mehr würden brauchen können. Die nahmen ihre guten Zeiten gar nicht wahr, weil sie ständig für die schlechten vorsorgten.
Eine von Theas Lebensmaximen lautete, dass ohnehin kommen würde, was kommen sollte. Zumindest gehörte das Alter zu den zuverlässigen Größen, die diese These bestätigten. Zwar war das Alter noch nicht ganz angekommen bei Thea und Thea nicht bei ihm, aber sie war im Begriff, die Fronten zu wechseln, das war ihr sehr bewusst. Und ihr Körper, den sie lange zu kennen geglaubt hatte, benahm sich unberechenbar, wie ein hyperaktives, unbändiges Kind, dessen Auffälligkeit die Psychologen neuerdings den Namen Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom verpasst hatten, was die Sache nicht handhabbarer machte.
Der Körper jedenfalls wechselte manchmal unvermittelt von einer Minute zur anderen seine Befindlichkeiten, setzte alles bisher Gültige außer Kraft, ignorierte die Gesetze und bewegte sich herren- und haltlos in einem anarchischen Zustand turbulenter Temperaturschwankungen. Er hielt keine Termine mehr ein, geschweige denn irgendwelche guten Sitten. Der Körper war die Unzuverlässigkeit selbst. Und die Seele, immer auf gepackten Koffern, beharrlich im Schlepptau seiner Odyssee.
Theas Verstand blieb oft nichts weiter übrig als anzuzweifeln, ob der Weg wirklich das Ziel war.
Und manchmal befiel sie eben doch ein angstvolles Nachdenken darüber, wie es sein würde, wenn man endgültig ins Alter übergetreten war. Mit Herz und Gemüt wohl an seinen Wurzeln hängend, mit Leib und Geist aber dann im letzten Land. Man würde dessen Sprache lernen müssen und sich mit seiner Kultur befassen. Und irgendwann, ob man wollte oder nicht, würde man auch seine Staatsbürgerschaft annehmen müssen. Sicher, man könnte noch lange weiße Hosen anziehen und rote Schuh. Aber helfen würde es nicht.
Thea glaubt, man wird Acht geben müssen, dass man sich nur so sträubt, wie es auch sinnvoll ist. Wenn es denn überhaupt ein sinnvolles Sträuben gibt. Die Jahre lassen nicht gut mit sich handeln. Sie besiegeln ein paar Mal heuchlerisch per Handschlag die Abmachung, sich im Hintergrund zu halten, und eh man es sich versieht, geben sie einen der Lächerlichkeit preis. Mit den wirklichen Jahren handeln zu wollen, ist vertane Zeit.
Dem Verstand war das klar. Ob er sich dieser Klarheit pünktlich bewusst sein würde, blieb offen.
Die meisten scheiterten ja schon daran, zu akzeptieren, dass es so weit war, wenn es so weit war.
Sie kauften tapfer die neuesten Trends ein, sagten in der Öffentlichkeit artig auf, dass man so jung wäre wie man sich fühlte, und weinten abends ins Kissen. Aber das betraf eher die Oberflächlichen, die das Desinteresse der Allgemeinheit an ihrer Personalhülle mehr fürchteten als die Gebrechlichkeit.
Und dann gab es noch die, die lange vor ihrer Zeit beschlossen hatten, alt zu sein und ihr inaktives Leben, besonders auch in geistiger Hinsicht, später nur noch durch die realen Jahre legitimieren zu lassen. Die setzten sich auf ihre Couch und warteten aufs weiße Haar, um daraus dann endlich die Achtung der anderen zu beziehen.
Und noch wieder andere kokettierten mit dem Alter ewig herum, um sich so über den Berg ihrer Ängste zu helfen. Und die Ängste waren weiß Gott nicht unberechtigt.
Wenn man fünfzig war, und Frau, hatte man mit dem Alter zu tun, auch, wenn man mit dem eigenen noch eifrig um friedliche Koexistenz feilschte, so hatte man doch alte Eltern. Und die Großeltern waren zumeist schon längst gegangen. Freunde und Bekannte hatten in die Jahre gekommene Vorfahren. Jeder hatte jemanden zu versorgen, mehr oder weniger. Manche hatten einen ihrer Greise zu sich nehmen müssen, andere hetzten zweimal in der Woche zu Vater oder Mutter, um Einkäufe hinzubringen, Wäsche zu holen, nach dem Rechten zu sehen und überhaupt ein gutes Kind zu sein. Sie erledigten die anstehenden Angelegenheiten und tranken hastig, auf ein flüchtiges Wort mit ihrem Elternteil einen Kaffee. Sie waren erschöpft von der doppelten Haushaltsführung und dem ständig schlechten Gewissen, das die Alten ihnen machten, weil sie nie lange genug blieben. Sie sahen sich verstohlen den fremd gewordenen, verfallenden Menschen an und kamen nicht umhin, dabei auch ihre Zukunft zu sehen.
[…]
Ihre beiden Kinder hat Thea so sehr gleichberechtigt, dass die gleich berechtigt waren, als sie noch gar nicht darüber befinden konnten. Natürlich ging das zu Theas Lasten, und später auch sicher zu Lasten der emotionalen Bildung der Kinder. Das ist keine Frage. Heute ist das keine Frage mehr, das steht längst auf der Fehlerliste der traurigen Erkenntnisse. Überhaupt ist die Fehlerliste der Mutterliga bei Thea am längsten. Dabei wäre sie so gern eine gute Mutter geworden. Aber als sie merkte, wie hoch der Preis dafür war, und in welch kostbarer Währung, nämlich ihrer Lebenszeit, er unablässig eingefordert wurde, ist sie Conny und Henning doch manch eine Rate schuldig geblieben. Und sich selbst trotzdem das Glück. Denn die Zeit, die sie für sich beharrlich erkämpft hatte, konnte sie oft nur halbherzig nutzen, weil das schlechte Gewissen sie ständig in die Schranken wies. Niemand, denkt Thea, steht sich selbst so sehr im Wege wie wir Mütter uns Frauen.
Aber ganz ablassen vom eigenen Leben konnte Thea auch nicht, denn zu offensichtlich war die Endlichkeit des Daseins in ihr Bewusstsein gerückt. Und der monotone Kreislauf der Generationsablösungen, der sich immer dann deutlich in den Vordergrund spielte, wenn die Vor- und Nachfahren der Familie in weißen Blusen und Hemden zu runden Geburtstagen antanzten und sich freundlich zu Schnappschüssen ewiger Erinnerungen vereinten, als wäre das des Lebens Sinn, langweilte und ängstigte sie gleichermaßen.
Erst neulich, als Thea ihre Mutter zu einem Familientreffen fuhr, und hinten im Auto noch Conny und deren Tochter saßen, dachte sie plötzlich: Vier Generationen sitzen jetzt hier zusammen. Eine Matrjoschka hat die andere hervorgebracht. War das denn nötig?
Thea hat oft so seltsame Gedanken. Vielmals solche, die sich zu denken nicht gehören. Das ist ihr Schicksal seit langem. Und Thea glaubt, schlimmer ist nur dran, wer hellsehen muss.
Manchmal hatte sie sich gewünscht, sie hätte eine von diesen Furienmüttern werden können, die ständig die Arme ausbreiten, ihre Brut selbstgerecht an die große Brust zu holen und die nie den geringsten Zweifel an der Unschuld ihrer Kinder hegen, die lauthals und flügelschlagend alle und alles angreifen, was ihren Gören zu nahe tritt und die das unbedingt für Liebe halten. Aber auch dafür war Thea nicht geeignet. Nicht für die mit Blindheit geschlagene Übermutter und nicht für die konsequente, weitsichtige Erzieherin. Sie hätte klug daran getan, auf Mutterschaft zu verzichten. Auch das ist so ein Gedanke für den Giftschrank, obwohl er eigentlich nichts mehr anrichten kann, denn es sind da nun zwei Menschen unterwegs, die sich anschicken, beim großen Staffellauf bald an der Reihe zu sein, was nichts über die Qualität ihres Lebens aussagt, sondern nur benennt, dass etwas im Fluss geblieben ist, und dass einer weiß, wem er vorauslief und wem hinterher. Mehr nicht. Und nicht weniger.

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