Sie bestellte einen Milchkaffee, ohne die Kellnerin anzusehen. Der Platz, an dem Jenny saß, war gut gewählt. Sie drehte den Oberkörper etwas nach rechts und reckte den Hals ein wenig. So konnte sie sehen, wer das Café betrat. Der Mann schien ihr nicht gefolgt zu sein. Vielleicht wartete er draußen auf sie, schließlich hatte Jenny ihm keine Antwort gegeben.
Er hatte plötzlich vor ihr gestanden. Sein Gesicht hatte Jenny aus dieser geringen Entfernung nicht richtig wahrnehmen können. Einiges daran kam ihr zwar bekannt vor, aber die Stimme, die der Mann hatte, die Stimme passte nicht dazu, sie war Jenny vollkommen fremd. Abgesehen davon wusste Jenny nicht, was sie hätte erwidern sollen.
Am Nebentisch saßen zwei Frauen und ein Mann. Hin und wieder sagte eine der Frauen etwas, worauf die andere entweder bestätigend nickte oder den Kopf schüttelte. Letzteres konnte sowohl eine Geste des Verneinens sein als auch ein Ausdruck des Erstaunens über das soeben Gehörte. Jenny unterdrückte den Wunsch, das Gesicht der Frau zu betrachten, um ihre Mimik zu studieren. Es war eine Unsitte, fremde Menschen anzustarren. Irgendwann würde die Frau es bemerken, dass Jenny sie beobachtete. Zuerst würde sie lächeln, dann wäre sie irritiert und zum Schluss wütend. Jenny kannte das, so war es jedes Mal gewesen, und so würde es auch heute sein. Nicht umsonst war sie auf diese andere Idee verfallen.
Mit niedergeschlagenen Augen, die sie nur ab und an hob, um zur Tür zu blicken, saß Jenny da. Sie war erleichtert, als der Mann am Nebentisch sich eine Zeitung holte und darin zu lesen begann. Nun konnte Jenny sich zurücklehnen und eine bequemere Haltung einnehmen. Die aufgeschlagene Zeitung bot ihr ausreichend Schutz. Wenn derjenige, dem sie die Antwort schuldig geblieben war, ins Café kam, würde er sie nicht sofort finden.
Die Kellnerin stellte das Glas mit dem Kaffee auf den Tisch. Jenny erwiderte ihr Lächeln nicht. Das war unhöflich, zumal auch Jenny eine freundliche Reaktion im Gesicht ihres Gegenübers erwartete, wenn sie ihn anlächelte. Außerdem wusste sie genau, welche Muskeln dafür verantwortlich waren, damit ihre Mundwinkel sich nach oben zogen. Jedes Mal, wenn sie die Taste Hörer abnehmen betätigte, betätigte Jenny auch diese Muskeln. Das gehörte zu ihrem Job. Ebenso unentwegt wie Jenny in das Mikrofon ihres Headsets sprach, ebenso unentwegt lächelte sie, manchmal waren es acht Stunden hintereinander, manchmal zehn. Und für viele Wochen und Monate war das einzige Gegenüber, dem Jenny bei der Arbeit zulächeln konnte, die Telefonanlage gewesen.
Jenny zuckte zusammen, als sie eine Frau fragen hörte, ob die Stühle an ihrem Tisch noch frei seien. Sie starrte der Frau ins Gesicht, dann musterte sie deren Begleiter. Waren das nicht Charlotte und Ben? Bevor Jenny nicken konnte, hatte die Frau einen anderen Tisch entdeckt. Sie zupfte ihren Begleiter am Mantelärmel, und die beiden gingen weiter.
Das Glas mit dem Milchkaffee verschwamm vor Jennys Augen, so wie auch Charlottes Gesicht verschwamm, und das Gesicht von Ben, und die Gesichter all der anderen, die einmal Jennys Freunde gewesen waren. Wie oft hatte sie sich vorgestellt, die Frau am anderen Ende der Telefonleitung sei Charlotte. War der Anrufer ein Mann, hatte sie Ben gesehen, die Wölbung seines Kinns, das pulsierende Äderchen an seiner linken Schläfe und vor allem seine dunklen Augen, wie sie jedes Mal aufleuchteten, wenn er Jenny anblickte. Und dann fiel Jenny das Lächeln ganz leicht, es bereitete ihr nicht mehr die geringste Mühe. Mit der Zeit aber veränderten die Gesichter ihrer Freunde sich. Klang die Stimme eines Anrufers ärgerlich, dann vertieften sich die Falten auf Bens Stirn, und er kniff seine Augen zusammen, bis sie ganz schmal waren. Früher hatte Jenny auch nie bemerkt, wie Charlotte ihren Mund verzog und wie schnippisch sie war.
Jenny griff nach dem Kaffeeglas. Sie musste das Glas in beide Hände nehmen, damit sie das Getränk nicht verschüttete. Irgendwann hatte sie die Gegenwart ihrer Freunde nicht mehr ertragen können. Die Bedrohung, die von ihnen ausging, verschwand erst, als Jenny neue Gesichter fand. Zunächst suchte sie diese in den Cafés, in die sie inzwischen allein ging. Aber immer schneller verbrauchten die Gesichter sich, die Jenny benutzte, um lächeln zu können. Und bald gab es kein Café, kein Restaurant mehr, in das Jenny noch zu gehen wagte.
Das Glas entglitt ihren Händen und fiel zu Boden. Es klirrte, dann war es still. Jenny spürte, dass alle Blicke auf sie gerichtet waren. Regungslos saß sie da, sie wusste nicht, was sie tun sollte, wohin sie gehen sollte. Nach draußen, wo vielleicht immer noch der Mann auf sie wartete? Jetzt fiel es Jenny ein. Er hat Sommersprossen auf seinem Nasenrücken, Sommersprossen, wie sie dem Gesicht gehörten, das Jenny in einem der Fenster des gegenüberliegenden Wohnblocks gesehen hatte.
Wie hat dieser Mann sie überhaupt erkannt? Jenny begann zu lachen, erst leise, dann immer lauter. Ihr Lachen klang so, wie das Glas geklungen hatte, als es zersprang. Erkannte Jenny sich doch manchmal selbst nicht, wenn sie in den Spiegel blickte. Das Gesicht, das sie dort sah, war ihr fremd. Es war ihr so fremd, dass Jenny das Gesicht fragte, was sie für es tun könne. Aber das Gesicht antwortete ihr nicht. Es wusste keine Antwort, so wie auch Jenny nicht wusste, was sie dem Mann hätte sagen sollen, als er sie fragte, ob es ihr Spaß machen würde, heimlich mit dem Fernglas fremde Menschen in ihren Wohnungen zu beobachten.
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