„Tschüß“, sagte er zu uns. Nur das und nicht mehr. Weil auch nicht mehr zu sagen war. Stieg in seinen alten moosgrünen Fiat, kämpfte einen Moment mit dem Gurt, der seltsam störrisch schien in dieser Frühlingsnacht, die wie verblichener Herbst roch. Vom Seitenfenster rann Abschied wie Regen und verzerrte das verzerrte Grinsen, das er uns zuwarf, ehe er seine Hände um das Steuerrad spannte und die Schultern durchdrückte. Durch den Auspuff tropfte sein Seufzen.
Das letzte das wir hörten.
Tom und ich blieben auf der maulfaulen Straße zurück. Ich sah den beiden rot tanzenden Lichtpunkten nach, die sich in der Finsternis verfingen. Er hatte seine Hände tief in den Hosentaschen vergraben, starrte auf den Asphalt, versetzte einem Steinchen einen Tritt.
„Hey…!“
Ich bückte mich, sammelte das Steinchen auf, betrachtete es prüfend und ließ es dann in meine Jackentasche verschwinden. Tom sah mich an, grinste. Sein Tomgrinsen.
„Wie viele macht das jetzt, genug für eine Lichtjahrlänge?“, fragte er.
„Mindestens“, sagte ich.
Er grinste weiter, kramte seine Hand aus der Hosentasche hervor und streckte sie nach meiner aus. Ein letzter Blick die Straße hinab, die sich scheinheilig sanft an das Ortsausgangsschild schmiegte, dann machten wir kehrt.
Hinter uns verschwieg die Dunkelheit ihr Echo.
Zuhause war alles still. Ich zündete die Kerze auf dem Tisch zwischen den Abschiedswein- und Colaflaschen an und die beiden auf dem breiten Fensterbrett, nach kurzem Sinnen auch noch die dicke bunte auf der Kommode. Zur Feier des verdorbenen Tages.
Tom hatte sich in seinen durchgesessenen Lieblingssessel fallen lassen und streckte die Beine auf meinem Bett aus.
Die schönen Augen geschlossen.
„Du weißt aber schon, daß Kerzen am Ende teurer sind als der Strom für eine Glühbirne, oder?“
„Klar weiß ich das. Aber…, kannst du in einer Glühbirne etwa das Urfeuer sehen? Oder Regenbogen riechen? Oder den letzten Morgen im Paradies schmecken?“
Ich sah aus den Augenwinkeln, wie er tom-ernst den Kopf schüttelte. Und liebte ihn dafür. Nickte zufrieden, ging zu meinem Schreibtisch hinüber, holte das Steinchen aus meiner Jackentasche und betrachtete es einen Moment lang. Es war grau und schwarz mit vereinzelten, kaum erkennbaren roten Punkten. Hübsch. So hübsch wie nur Steine sein können. Und legte es dann zu den anderen in die alte goldverblichene Zigarrendose mit dem ausgebeulten Deckel.
Ich hatte aufgehört sie zu zählen. Die Steine. Einer für jeden aus der Familie und die Freunde, die im Laufe der vergangenen Jahre in den Westen gegangen waren, um dort ihr Glück und Arbeit zu suchen. Konnte mich noch genau an den
Tag erinnern, als ich damit anfing, den allerersten Stein fand, für meinen Bruder Frank, im Sommer 1992. Glitzernd als wäre er in Silberstaub getaucht worden. Wohl Quarz, meinte Tom. Und ich hatte es für ein gutes Zeichen gehalten. Silberfunken. Wie Sterne. Das konnte ja nur bedeuten, daß Frank bald wieder zurückkommen würde.
Dreizehn Jahre später glitzerte der Stein noch immer verträumt zwischen seinen Ecken und Kanten, doch mein Bruder kam nur zu Weihnachten nach Hause.
„Willst du es gleich versuchen?“, hörte ich Toms leise Stimme hinter mir. Er klang etwas schläfrig. Müde. Ich war es auch. Trotzdem wollte ich es versuchen. Nickte. Und kippte die Kiste mit den Steinen aus. Fing an zu stapeln. Einen Stein auf den anderen. Vorsichtig, meine Finger trotz all der Übung immer noch zitternd. Vor Aufregung. Ohnmacht. Einem Rest Hoffnung…
Hörte den Sessel knarren, als Tom aufstand und näherkam. Er gähnte. Sein Atem kitzelte warm meine Wange. Einen Moment lang starrten wir beide auf den Turm, den ich - Stein für Stein – aufschichtete. Es war ein Spiel. Tom und ich hatten es erfunden, zur Tradition gemacht. Und noch viel mehr als das. Denn wenn ich es schaffte, alle Steine aufeinander zu stapeln und der Turm drei Sekunden lang stehenblieb, ohne in sich zusammenzubrechen, würden sie zurückkommen. Nach Hause. Alle. Alle, die jemals gegangen waren. Und verschwunden.
Bisher war mir das kein einziges Mal gelungen. Und manchmal fühlte ich mich fast schmerzhaft verantwortlich für all die vielen leeren Wohnungen in der Stadt.
„Du hättest statt Steine Streichholzschachteln nehmen sollen, wäre einfacher“, war einer von Toms regelmäßigen halbspöttischen Tips. „Oder wenigstens hingucken, ehe du einen x-beliebigen Stein aufsammelst, der viel zu uneben
ist, zu unflexibel, um für Balance zu sorgen.“
„Kommt nicht in Frage, jeder Stein wird so genommen wie
er ist. Und außerdem… ich hasse das Wort flexibel.“
„Ich weiß“, sagte er dann. Äffte mit Kauzkrächzstimme
den klebrigen Zeitgeistspruch des neuen Jahrtausends nach: „Heutzutage muß man flexibel sein, nur wer zur Veränderung bereit ist, kann auch gewinnen bla bla bla…“ Er schüttelte sich. Der Schreibtisch und die Bücherberge darauf wackelten stumm mit den Köpfen. Ich hörte einen Augenblick auf zu
atmen. Doch kein Stein fiel.
Und ich nahm den nächsten zur Hand. Ganz sachte.
„Steine sind toll. Steine verändern sich auch nicht einfach so. Steine sind auch nicht flexibel. Steine
verlassen nicht einfach so aus freien Stücken ihre Heimat. Und dennoch gibt es sie schon so lange es die Erde gibt.
Sie haben alles überlebt. Und wir werden es auch. Genau hier. Wir sind wie Steine. Stark. Und ausdauernd. Durch nichts umzuhauen“, sagte ich und balancierte vorsichtig einen weiteren Stein auf die wachsende Turmspitze. Tom halb hinter mir schnaubte spöttisch. Er fühlte sich nur selten wie ein Stein. Stark, unverwüstlich. Ewig. Und ich wußte es.
„Träumerin“, flüsterte er, nahm behutsam eine meiner Haarsträhnen zwischen seine langen Finger und kitzelte sacht meine Wange.
„Hey, laß das…“, sagte ich, die Augen fest auf den Steinturm gerichtet, versuchte weder zu atmen noch mich zu bewegen. Den Moment zu halten. Zu fangen. Spürte sein Grinsen.
„Ist das da Roberts Stein?“, fragte er und zeigte auf den scharfkantigen grauen mit der Delle.
„Nein, das ist Tante Inas. Roberts ist größer. Der war vom Strand, weißt du noch?“ Sicher wußte er das noch. Abschiedsfeier am Strand. Knapp zwei Monate nach dem Abi. In der Nacht hatte ich mehr als einen Stein gesammelt.
Manchmal, wenn ich die Augen zu lange geschlossen hielt, sah ich ganze Schlösser, Paläste aus kleinen Steinen, mit Erkern und Türmchen, Brücken und Säulen. Perfekt. Und stabil. Ganz gleich wie scharf der Sturmwind der modernisierten Zwänge peitschte.
Manchmal gingen Tom und ich am Strand spazieren und unterhielten uns über den „Sinn“ des Lebens. So wie man es tut, wenn man trotz aller gutverkleideten Leitsätze, pflichtbewußten Bemühungen und paradiesblinden Suchen immer noch absolut keine Ahnung hat, worum es sich dabei handelt. So wie alle es tun. „Weißt du noch, der Träumknopf am Fernseher?“, fragte ich. Und Tom lachte, fast ohne überhaupt nachdenken zu müssen.
„Oh Gott, der Knopf, wie könnte ich den vergessen?“
Als wir Kinder waren, war Tom ebensooft zum Abendbrot bei uns wie das Westfernsehen. Wie wir die Werbung liebten! Genauso spannend wie unsere Lieblingsserien. Genauso verlockend. Traumhaft. Ein Tor zur anderen Märchenwelt. Und an unserem Fernseher hatten wir diesen kleinen funkelnden Knopf enttarnt. Drückte man drauf, purzelten die glitzernden Waren aus der goldenen Zauberwestwelt geradewegs in unser Zimmer. Traumbarbies, Traumautos, Traumillusionen. Und mein Bruder Frank verdrehte genervt die Augen, wenn er sah, wie wir beide uns kichernd in unseren Schätzen auf dem Boden wälzten.
„Ihr spinnt doch, alle beide.“
„Nee, wir spinnen gar nicht“, gluckste Tom ausgelassen.
„Wir träumen nur“, sagte ich. „Mach doch mit.“
Frank knurrte. „Träumen… davon kann ich mir nichts kaufen.“
„Sollst du ja auch gar nicht.“
„Träumen ist besser als kaufen.“
„Träumen kann man am besten, wenn man am wenigsten hat.“
„Denn wenn du alles hast, wovon willst du dann noch träumen?“
Sagten Tom und ich mit unserer gemeinsamen Stimme. Und Frank suchte eilends das Weite.
„Träumt weiter.“ Flüchtete aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter uns zu.
Tom grinste. Damals wie heute.
„Was brauchen wir schon? Wir haben doch noch unsere Träume“, sagte er immer. Und immer wieder. „Und uns“, sagte ich. „Und uns.“
Tante Inas Stein saß fest. Wie auch der neue dunkel-rote.
Und ich griff nach dem nächsten. Überrascht, daß es der letzte war. Der letzte Stein für diese Nacht. Er war etwas runder. Glatter. Rutschiger.
Und mich packte die Angst. Ganz plötzlich. Ganz starr. Tom hinter mir gähnte wieder. Ich kniff die Augen zusammen, starrte auf den rutschigen Stein zwischen meinen Fingerspitzen und hielt den Atem an, als ich ihn ganz langsam an die Turmspitze heranführte.
Mein Herz hämmerte. In meinem Kopf summte etwas.
Diese verdammte Panik.
„Heute kam ein Brief“, hörte ich Tom sagen.
„Ein Brief?“, sagte ich, tonlos, um keine Luft aufzuwirbeln. Der Stein berührte fast die Turmspitze.
„Ein Jobangebot… “
Ich biß angespannt die Zähne zusammen.
„In München.“
Der Stein berührte die Turmspitze.
„Ein Traumjob…“, sagte Tom.
Der Stein lag auf der Turmspitze. Meine Finger klebten an ihm fest.
„Traumjob, hm?“
Ich öffnete vorsichtig die Finger und schloß die Augen.
„Du…, du könntest mitkommen… “
Eine Sekunde, zwei… drei…, dann krachte der Turm in sich zusammen. Steine knallten auf die Tischplatte und rollten auf den Boden.
Ohrenbetäubend in der Stille.
Stille.
Meine Knie wurden weich. Langsam drehte ich mich um.
Tom lag gemütlich in seinem Lieblingssessel. Die Füße auf meinem Bett ausgestreckt. Die Augen geschlossen.
Ich starrte ihn an.
Wer hatte hier gerade geträumt?
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