Startseite

Zimmer mit Aussicht

Er ist ziemlich klein, dünn, trägt Hemd und Krawatte und einen Anzug, der allerdings schon bessere Tage gesehen haben muss.
Der alte Mann lächelt, wenn er mich mit seinen wasserblauen Augen ansieht. Schweigt und wartet auf meine Ansage.
Zechprellerei steht auf dem Aufkleber. Das hört sich so altmodisch an, fast mittelalterlich. Ich versuche mir vorzustellen, wie so etwas geht. Man isst, man trinkt, geht man dann unauffällig, ohne zu bezahlen? Wie kriegt man dann so jemanden gefasst? Rennt der Wirt hinterher?

Ich wollte heute eigentlich früher Schluss machen, geht es mir durch den Kopf. Freitagnachmittag, typisch. Ersatzstrafe. Immer wieder dasselbe. Wer am Freitag länger auf der Arbeit bleibt, den bestraft die Polizei. Warum bringen sie solche Opas immer am Freitagnachmittag?
Er schwitzt ein wenig; Entzug. Wie immer am Freitagnachmittag.
Ich frage den Opa, ob er wisse, wo er sei.
Ja. Ich hatte heute zwar vor, nach Schwerin zu fahren, aber irgendwie muss ich mich wohl der falschen Gruppe angeschlossen haben. Hier ist es aber auch schön. Ein schönes Hotel.
Er lässt den Blick auf die kahlen Wänden des Behandlungsraumes gleiten und lächelt mich an, sobald er meine Augen mit seinen trifft.
Ich wollte meine Tochter besuchen. Mit dem Bus. Der junge Mann mit der Schirmmütze, der Busfahrer hat mich hierher begleitet. Der muss wohl bemerkt haben, dass ich mich verlaufen habe. Die sind alle so nett hier ...
Ich frage mich, wer ich wohl sein mag, hier im  Hotel. Und seit wann er nichts mehr getrunken hat.
Warum sind da solche Gitter an den Fenstern? Frage ich ihn.
Find’ ich gut! Gegen Einbrecher. Man kann das Gepäck ruhig im Zimmer lassen, da geht keiner bei.
Auch für die Mauer, die man aus dem Fenster sieht, hat er eine Erklärung. Ein Damm, gegen Überschwemmungen.
Die haben wirklich an alles gedacht. Hier im Hotel.

Ich zeige ihm ein leeres Blatt. Können Sie mir bitte sagen, was hier steht?
Er schaut darauf, den Arm etwas gestreckt.
Warum hat man seine Brille nicht mitgeliefert? Immer wieder dasselbe.
Das ist eine hübsche Speisekarte. Ich werde mir nachher zum Abendbrot was Schönes aussuchen!
Er gibt mir die Speisekarte wieder. Ich nehme sie und schaue unwillkürlich darauf. Als ob tatsächlich künstlerisch gezeichnete Hummerkrabben, geschwungene Liberty-Schnörkel an den Ecken, Preise und erlesene Weinsorten liebevoll aufgelistet wären.
Langsam gefällt mir sein Hotel.
Ich möchte ihn fast fragen, wie viele Minuten sein Frühstücksei kochen soll, morgen früh.

Bilder aus meiner Kindheit fallen mir plötzlich ein: Wir taten manchmal so, als ob wir den Tisch decken würden, im Garten auf der Sitzbank, mit Kürbisblättern als Teller und Tassen aus Schneckenhäusern. Wir saßen dann auf umgekippten Blumenkübeln, wie Damen beim Tee, und spielten Erwachsensein.

Fast automatisch schreibe ich in seine Akte prädeliranter Zustand, Übergang zum Vollbild, während ihm die Schwester die ersten zwei Kapseln verabreicht, die ihn wieder auf den Boden der Realität bringen werden.
Er nimmt sie ein und lächelt mich wieder an, als habe man ihm ein Stück Bisquit gereicht.
Irgendwie bin ich traurig geworden.
Die Bilder aus meinem Garten, die Erinnerung an unsere Kinderstimmen, an die zarten Sonnenstrahlen eines Spätsommers vor vielen Jahren sind wieder weg. Ich habe das Gefühl, als ob ich dem alten Mann wehtun würde mit meinen heimtückischen Kapseln. Er wird in einem Gefängnis wieder aufwachen, nachdem er im Hotel eingeschlafen war.
In einem schönen, etwas altmodischen Hotel, in dem er aus Versehen ausgestiegen war, in dem wir beide uns für eine kurze Zeit an einem Freitagnachmittag getroffen haben.

Risse 13

Das elfte Gebot

Der Schaukelsessel, gepolstert mit Patch-work-Kissen umarmte sie, weich wie eine Wiege, und sie schaukelte sanft, fast unmerklich, die Beine mit einer geblümten Decke umhüllt.
Die Sonne schien durch die Fensterscheibe und fiel mit einem Goldschimmer über ihr Haar.
Schaukelnd, hielt sie ihre Puppe in den Armen, fest an die Brust gepresst.
So saß sie immer, in ihrem Raum im zweiten Stock. Hier verbrachte sie die meiste Zeit des Tages, seitdem es festgestanden hatte, dass sie nie wieder würde laufen können.
Die Stimmen aus der Küche beunruhigten sie, obwohl sie nicht alles verstehen konnte. Unten stritten sie sich.
Sie hörte Bruchstücke von Sätzen, in denen es um Geld, Schulden und Hypotheken  ging. Er schrie. Ein Teller oder so etwas Ähnliches fiel und zerbrach.
Sie hielt ihre Puppe fest und redete sich ein, der Teller sei vom Tisch gefallen. Lediglich gefallen.
Sie schloss die Augen und sagte sich still immer wieder ihr Lieblingsgebot. Das elfte.
An diesem Tag gab es kein Mittagessen.

Einige Wochen später zogen sie aus dem großen Haus fort. Von ihrem Stuhl konnte sie den Umzugswagen rangieren sehen. Gelb, mit dunkelblauen Buchstaben auf den Seiten, die sie durch die Blätter der großen Esche zu lesen versuchte.
Auch ihr Sessel kam auf den Transporter. Sie wurde die Treppe hinuntergetragen. Ihre Puppe trug sie selbst.
Unterwegs dachte sie immer wieder über das elfte Gebot nach.
Sie zogen in ein Hochhaus am Rande der Stadt, sie bekam das große Zimmer, und ihr Sessel stand wie gewohnt neben dem Fenster. Von hier konnte sie auf den Spielplatz und auf die betonierten Radwege zwischen den Blöcken sehen.

Die Küche war jetzt näher. Die Gespräche waren leiser geworden, und seltener.
Manchmal hörte sie, wie die beiden sich über sie unterhielten. Dann ging es immer wieder darum, wer sie unbedingt im Haus hatte behalten wollen, es ging um teuere Medikamente, um Geld für die Miete.
Schaukelnd hielt sie dann ihre Puppe fest, vergrub ihr Gesicht in den rauen, vergilbten Spitzen des Puppenkleides, und sie schlief manchmal dabei ein.

Der zweite Schlaganfall kam an einem Vormittag im Mai. Wie ein Stromschlag durchfuhr ein fremdartiger Schauer ihre Arme, ein Krampf, der nicht enden zu wollen schien, rüttelte ihr Gesicht, die Puppe fiel hin.

In der Klinik lag sie in einem Einzelzimmer, in Abständen piepte ein Gerät, und das schlürfende Geräusch des Sauerstoffgerätes war ihr Atmen geworden.
Sie war so gut wie tot.

Nur ihre Gedanken lebten noch. Erinnerungen aus einer fernen Zeit gaben den Linien ihrer Gehirnströmen einen Inhalt, den keiner mehr erfahren sollte.

Sie sah ihn vor sich stehen, wie an dem Tag, als er das letzte Mal auf Heimurlaub gekommen war. Sie sah seine stahlblauen Augen, sein Lächeln, seine Uniform.
Als er wieder wegmusste, gab er ihr zum Abschied eine kleine Holzkiste und nahm ihr das Versprechen ab, sie nur dann  aufzumachen, wenn er nicht wiederkommen sollte.
Er kam nie wieder nach Hause. Der Krieg hatte ihn verschluckt, wie Chronos seine Kinder.

Die Kiste machte sie weinend, eine Woche, nachdem man ihr die Nachricht überbracht hatte, auf.
Diamanten. Hunderte von Diamanten glitzerten in allen Farben. Große Diamanten, kleinere. Wie eine Sternennacht. Und ein Brief.

Sie hatte die Steine in einer Stoffpuppe eingenäht, gepolstert mit Wolle.

Das Gerät piepte weiter, das Sauerstoffgerät atmete noch.

In dem Brief erzählte er ihr von  Nächten im Schnee, von den Zügen, die voller Menschen kamen und leer abfuhren, von den Stiefeln, in denen seine Füße schmerzten. Von den kalten und erstarrten Fingern, die ihm Schätze überreicht hatten, um eine Rettung zu erkaufen, die ausgeschlossen war.
Und von einem leisen Regen aus Asche, der jeden Dienstag über die Dächer der Dörfer niederfiel.
Er erzählte ihr, es gäbe kein Gebot, gegen das er nicht gesündigt habe. Nur das elfte Gebot hatte er respektiert, ein Leben lang.
Sein Vater hatte es ihm eingeprügelt, und es galt über allem.
"Du sollst deine Zukunft sichern."

Ein Gerät piepte laut, das bis dahin geschwiegen hatte.

Sie kam auf den Friedhof in einem billigen Sarg, denn ihre Tochter konnte ihr Begräbnis nicht bezahlen, und das Sozialamt zahlte nur die einfachste Ausführung.

Der Schaukelsessel wurde mit dem Sperrmüll weggefahren. Die Decke, die Patch-work-Kissen und die alte zerfranste Puppe landeten mit dem Müll der Stadt in der Verbrennungsanlage.
Wieder fiel ein leiser Regen aus Asche über die Dächer nieder.
Wie jeden Dienstag.

Risse 13


Risse e.V., Arno-Holz-Straße 1, 18057 Rostock
IBAN: DE73 1305 0000 0200 0598 90 / BIC: NOLADE21ROS
Kontakt|Impressum|Datenschutz|Bestellen