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Kleiner Lebenslauf, fortgesetzt


Ich wurd an einem Sonntag geboren, in einem heißen Sommer. Niemand wusste so recht, wofür.
Ich lernte leicht sprechen und mühselig laufen. Als ich beides konnte, machte ich mich auf den Weg, die Liebe zu suchen.
Zuerst bei meiner Mutter. Aber ich war schon ihr Drittes, und mein unausgesprochener Name war: Nochmehrsorge.
Sie hatte mir das Leben geschenkt, dazu an einem Sonntag.
Es war undankbar, noch Liebe zu fordern.
Später dachte ich manchmal, ich hätt sie gefunden, die Liebe. Ich dachte es, als ein Junge in der Fünften mir auf einen Zettel schrieb, dass er  mit mir gehen wolle; ich dachte es, als Bernd L. mir auf dem Rummel eine Papierblume schoss und als ich in der Zehnten mit Detlef W. zum ersten Mal nackt baden war.
Ich dachte es nicht mehr, als  einer mich heiratete. Ich hatte schon so viel gelesen über die Liebe und wusste längst, dass sie für mich nicht war. Ich war geheiratet.  Einer hatte Interesse an mir. Es war undankbar, noch Liebe zu fordern.
Als ich nicht mehr nach ihr suchte, kam sie auf meinen Weg. Mitten in mein geordnetes, verheiratetes, langweiliges Leben. Ich war so erschrocken davon, dass ich weglief vor Angst, nachdem sie mir einmal aufblitzte in einem Licht, das ich zuvor noch nicht gesehen hatte. Ich verschloss alle Türen und Fenster, zog die Vorhänge zu und lebte fortan im Dunkeln.
Ich war sehr treu.
Als das Licht sich im siebten Jahr der Begegnung immer noch nachts zeigte, suchte ich es doch.
Ich wurd an einem Mittwoch geboren, in einem kaltwarmen Advent.
Jemand wusste, wofür.
Ich lerne leicht gehen und mühselig sprechen.
Ich bin ein mittwochgeborenes Sonntagskind und hab noch das halbe Leben.

Ich wuchs ohne Westverwandtschaft auf und musste mit dem zurechtkommen, was meine Eltern mir kaufen konnten.
Ich übte mich darin, was ich nicht haben konnte, auch nicht haben zu wollen. Aus der Not heraus lehnte ich bald alles ab, was aus dem Westen kam. Jedenfalls in der Öffentlichkeit.
Ich versah mich mit Artikeln über Rauschgiftsüchtige, Arbeitslosigkeit, Emanzipationskämpfe der Deutschen Bundeshausfrau und Berufsverbote von DKP-Mitgliedern.
 Zwei Mädchen aus meiner Klasse habe ich an der Nase herumgeführt, indem ich ihnen unsere Creme in einer Westcremedose als das, was drin sein sollte, glaubhaft weismachte.
Ich habe mich halb totgelacht und fühlte mich politisch gut.
Meine Mutter hat entsetzlich geschimpft über die Schmiererei in unserem Waschbecken, mein Vater meinte, das sei Etikettenschwindel, und mein Staatsbürgerkundelehrer, ich hätte das Zeug zu einem Funktionär.
Ich halte diesen Trick heute für blödsinnig und fürchte, dass er bei ausgewählten Schwestern immer noch funktionieren würde.

Wir waren zu Hause zwei Mädchen und ein Junge. Ich hatte es gut. Ich habe Bruder und Schwester.
Meine Mutter hatte versucht, uns gleich zu erziehen, so gut sie eben konnte. Immerhin hatte ihr Verstand gegen die Vergötterung des Kronsohnes tapfer angekämpft.
Das soll ihr zugute gehalten sein, seit ich selbst einen Sohn geboren habe.
Trotzdem wurde ich dazu erzogen, dass das, was Jungen konnten, Mädchen schon lange zu tun in der Lage waren. (Von Dürfen war die Rede nicht.)
Ich zweifelte diese Gleichmacherei zum ersten Male an, als wir im Werkunterricht vom ewigen Feilen zu elektrisch betriebenen Maschinen übergingen. Bohr- und Schleifmaschinen und ein kleiner Hobel.
Ich hielt mich katzbuckelig an den pickeligen Olaf, den sonst niemand mochte. Wir waren uns beide zu Dank verpflichtet.
Jedenfalls, Maschinen, die Krach machen, die irgendetwas durchlöchern oder abschneiden oder trennen oder Dingen sonstwie beikommen, weil ihnen mit Menschenhand nicht beizukommen ist, sind mir ein Gräuel.
Und vielleicht, denk ich manchmal, dass ich schon damals in der Siebten, und ganz gegen meine Überzeugung, und sowieso vor der Zeit, und erst recht auf ungewollte Art und Weise, zum Weibe wurd.

Für meine Kinder empfand ich bedingungslose Liebe. Ich spürte, nachdem ich sie geboren hatte, wie sehr sie mir ausgeliefert sein würden. Mein Versprechen an sie war, dass ich das niemals ausnutzen wollte. So nährte ich sie, gab ihnen Dach und Bett und die Sicherheit, dass sie willkommen waren.
Was ich ihnen nicht gab, war Konsequenz. Ich spürte wohl, dass sie nötig gewesen wäre, aber die Konsequenz nahm sich anstrengend aus und machte immer einen bösen Eindruck.
So setze ich also auf Liebe. Sie sei die Hauptsache, dacht ich, und sie würd schon alles richten.
Zunächst richtete ich alles Fehlverhalten meiner Kinder ins „rechte Licht“ und rückte gerade. Für eine gute Mutter, die ich gern sein wollte, gehörte sich das so.
Zwar blickte die Konsequenz gelegentlich vorwitzig durchs Fenster, und ich drohte wohl auch zuweilen mit ihr, aber die Kinder hatten gar zu schnell raus, dass sie letztlich nicht hineinkäme.
Immer habe ich darauf gesetzt, dass sie doch spüren müssten, dass ich ihnen Gutes will. Aber auch das Gute bleibt ohne Pendant gesichtslos.
Jetzt versuchen die Kinder, ihrer Wege zu gehen, bedingungslose Liebe im Gepäck, und ahnen nicht, welch schlechtes Rüstzeug sie haben.

In unserem dreizehnten Mai sagte mein Mann mir, dass er gehen würde.
Beide weinten wir dabei. Mehrfach fügte er hinzu, dass seine Entscheidung nichts mit ihr zu tun habe.
Sie lebte schon seit einem Jahr mit uns. Sie war seine Kollegin und sein zweiter siebter Himmel, und er fühlte sich mir gegenüber deshalb schlecht.
Auf Arbeit fühlte er sich gut. Er arbeitete lange und viel damals.
Wir wollten alles ordentlich regeln und uns keine Steine in den Weg legen.
Ich hatte für das Heranschaffen von Steinen sowieso keine Kraft. Ohnehin rollten die sich eigenartigerweise wie von selbst vor unsere Füße.
Ich war ganz damit beschäftigt, ein Wort für sie zu finden, dass sie einen Namen hätte. Einen, den man auch sagen konnte.
Die Schimpfwörter, die aus der Wut kamen, aus der Demütigung, der Hilflosigkeit und dem Hass, wollten alle nicht taugen.  
Sie war nicht schuld. Das wusst ich gleich.
Aber sie hatte ihm die Kraft gegeben für seine Entscheidung, den Mut zu diesem Schritt, sie hatte ihm das Herz kalt gemacht, für alles, was vor ihr war. Und so brodelnd heiß für sich selbst.
Er war so bedingungslos verliebt in sie, wie er es vor vierzehn Frühlingen in mich war.
Ich hasste ihn nicht, ich beneidete ihn.
Mit ihr leb ich gut, seit ich Namen für sie fand. Sie ist meine Schneekönigin, eine meiner kleinen, kalten Narben. Sie wird also bleiben und mich wetterfühlig halten für neue Jahreszeit, während von ihm die Rede erlischt.

Zweiunddreißig war ich, als im schönsten Altweibersommer meine Landsleute sich auf fremde Wege machten.
„Das muss ein schlechter Müller sein ...“, war wohl ihr Lied.
Ich konnte nicht mit ihnen gehen. Ich war hier zu Hause.
Am neunten Tag im November, als die Botschaft uns verkündet wurde, verkroch ich mich mit meiner Angst, den anderen den Spaß nicht zu verderben.
Der Sommer, spürte ich, war nun wirklich zu Ende.

Im längst legalisierten, und doch für mich nie ganz befugten, Fernsehen  sah ich, wie Schwestern und Brüder von mir sich in die Botschaften drängten. Ich sah, wie diejenigen, die schon über den Zaun waren, denen, die noch rüberwollten, halfen.
Kleinen Kindern griff man am Genick in die dicken Jacken und zerrte sie hinüber, so wie man Karnickel am Genick ins Fell greift.
Die Redewendung „Mit dem Mut der Verzweiflung“ hatte von nun an Gesicht.
„Unsere“ Zeitungen legten fest, wir bräuchten diesen Menschen keine Träne nachzuweinen.
Ich hab trotzdem geheult.
Später, als man Kinder nicht mehr wie Karnickel über Zäune zerren musste, legten andere Zeitungen, die jetzt „unsere“ werden wollten, schon wieder fest, wem wir keine Träne nachzuweinen hätten.
Wenn schon einer sagt, brauchst keine Angst zu haben ...

Als in aller Eile der dritte Oktober zum neuen Staatsfeiertag gekürt wurde, paukten eifrige Mütter, auch in aller Eile, mit ihren Kindern die neue Hymne. Es sollte ein schönes Fest werden.
Plötzlich und unerwartet und für viele unfassbar, fing man hierzulande in einigen Schulen beflissen zu beten an.
Die Kinder waren etwas verwirrt. Und die eifrigen Mütter sagten, wenn es jetzt eben so sei, sei es eben so.
Die Halbwüchsigen stellten abwägend die Frage, ob es nicht, rein organisatorisch, versteht sich, weniger aufwändig war, einmal im Monat montags zum Parteilehrjahr zu gehen, als es jetzt aufwändig sein würde, jeden Sonntagmorgen Pastors Predigt zu hören.
Das könne man nicht vergleichen, sagten die Mütter und stellten fest, dass sie über die Fragen ihrer Halbwüchsigen schon wieder erschrocken waren.
Meine Kinder waren damals noch klein, und ich war deshalb nur mittelbar beteiligt. Ich wusste, dass ich nur Aufschub hatte, was die provokatorischen Fragen der Kinder betrifft.
Und ich brach deshalb den Stab nicht, den ich plötzlich so ganz ohne mein Zutun in Händen hielt, weil der Zufall ihn mir gegeben hatte.
Derweil sind meine Kinder fast erwachsen, und ich halte Opportunismus für ein Menschenrecht.
Nicht, dass ich stolz drauf wäre. Aber es ist, was es ist.

Zehn Jahre nach unserem Schulabschluss veranstalteten wir unser erstes Klassentreffen. Wir zeigten einander stolz die Fotos unserer Kinder und erzählten, was jeder jetzt so mache. Datenverarbeitung, Koch, Hauptbuchhalter, Postsekretär, Maler.
Maler war Bernd Bischoff geworden, die Zehnte damals mit Ach und Krach.
„PGH Farbe und Raum“, sagte Bischoff, „und im Feierabendgeschäft ein gutes Geld.“
Wir waren gestandene Leute.
Als wir uns nach zehn weiteren Jahren wieder trafen, zeigten wir einander die Hochglanzfarbfotos unserer halbwüchsigen Kinder und erzählten, wo jeder seinen letzten Urlaub verbracht hatte. Mallorca, Griechenland, Italien, Tunesien, zu Hause.
Zu fortgeschrittener Stunde erinnerten wir uns unserer Kinderspiele. Bischoff lallte: „Ich komme aus dem Morgenland, die Sonne hat mich braun gebrannt, Meister, Meister, gib mir Arbeit. Was kannst du denn?, fragt der Meister. Und dann mache ich meine Faxen vor, und die Dame vom Arbeitsamt, die der Meister ist, hat nach 20 Sekunden raus, dass ich Anstreicher bin.
Maler, sag ich.
Maler heißt jetzt Anstreicher, sagt sie.“

Auto fahren, selbst ein Auto zu führen, stand für mich lange nicht zur Debatte. Bestenfalls träumte ich davon. Klammheimlich und wachen Auges, so, wie man von einem hohen Lottogewinn träumt, den man dann aufteilt, voller Güte und Freigebigkeit.
Zwar hatte zu Zeiten meiner Ehe mein Mann es mit mir versucht. Überhaupt, wir hatten es miteinander versucht. Und wir waren beide guten Willens, nicht nur beim Autofahren.
Am Ende waren zwei Kinder, kein Job, kein Mann, kein Pfennig Geld und kein Gedanke an den Führerschein, geschweige denn an ein Auto.
Die Träume, selbst die wachen Auges, haben die Prioritäten des Alltags aufgenommen und sind ihnen nachgereist für lange Zeit.
Dann ergab es sich doch, das heißt, es machte sich plötzlich möglich. Und damit ich überhaupt anfing, es in ernsthafte Erwägung zu nehmen, machte ich aus der Möglichkeit eine Notwendigkeit.
Ich war alt. Ich war in Bezug auf den Erwerb des Führerscheins furchtbar alt. Zwar weiß ich nicht, was noch kommt, aber Autofahren zu lernen war das Schwierigste, was ich je in meinem Leben zu lernen hatte.
Ich bestand die theoretische Prüfung auf Anhieb mit null Fehlern, während die 18-Jährigen reihenweise durchfielen und wiederholen mussten. Aber die 18-Jährigen absolvierten ihre Fahrstunden ohne Angst, und sie benötigten fast ausnahmslos nur die Mindestanzahl.
Ich benötigte mehr als das Doppelte und musste vor und nach jeder Fahrstunde ausgiebig duschen.
Auch die Fahrprüfung habe ich auf Anhieb bestanden, aber „auf Anhieb“ ist trügerisch, weil mein Fahrlehrer lange nicht bereit war, mich überhaupt anzumelden.
Ich fahre jetzt seit knapp vier Jahren berechtigterweise und unfallfrei Auto. Auf fremden Strecken nicht gern, aber ich fahre.
Auf bekannten Strecken, die ich mir mühselig bekannt gemacht habe, fahre ich wahrscheinlich wirklich Auto. Ich drehe meine Musik auf.
Wenn in meinem Stadtverkehr mal eine Dame nicht so recht von der Kreuzung kommt, sag ich: „Nun komm in die Puschen, Lotte.“
Ich fühle mich wohl, und ich muss, wenn eine rote Ampel mich zum Stehen zwingt, die alten Lieder etwas leiser drehen, damit die anderen Verkehrsteilnehmer mich nicht für ausgeflippt halten.
Ich bin ein braver Bürger.
Wenn ich ausflippe, fahre ich hundertfünfzehn auf der Landstraße und höre die Beatles bis zum Anschlag.
Noch mehr Glück, denk ich dann, geht beinahe nicht.

Neunzehnhundertneunundsiebzig zog ich von Mutters Tisch.
Einraumwohnung, Platte, was seinerzeit in meinem Land „vom Feinsten“ bedeutete. Fernheizung, Bad innerhalb der Wohnung, alles im rechten Winkel und auch einigermaßen gerade.
Ich war taumelig vor Glück, als ich am ersten Abend im Duft von „Fichtennadel“ in meiner Wanne badete und immer wieder heißes Wasser nachließ. Kostenlos sozusagen. Die Miete neunundzwanzigfünfzig, mehrstündiges Baden täglich inklusive.
Wer auf sich hielt, hatte eine Wohnung, wo ich nun wohnte.
Ich hatte es geschafft.
Zwanzig Jahre später, ich hatte Energie und Nerven, Kraft und Tränen investiert, Eingaben geschrieben und unzählige, demütigende und zumeist erfolglose  Termine beim Wohnungsamt erwirkt und wahrgenommen, wohnte ich immer noch in rechtwinkelig geschnittener Wohnung mit Fernheizung und Bad, und für jedes Kind ein Zimmer. Ich war immer noch zufrieden.
Die Wohnungen sind pflegeleicht und „waschmaschinenfest“, pflegte ich zu sagen.
Aber ich wohnte nicht mehr dort, wo wohnte, wer auf sich hielt. Im Gegenteil.
Wer es jetzt geschafft hatte, hatte ein Haus und war geschafft.
Denen tue ich manchmal ein bisschen Leid, weil ich immer noch so leben muss. Ich mach dann mit, damit es ihnen besser geht. Es ist, weil sie so viel Arbeit haben und so viel Kredit und weil sie sich um ihre Klärgrube selbst kümmern müssen, wie früher mein Großvater ums Plumsklo, und weil einige gar die Stiefmütterchen in vorgeschriebener Farbe pflanzen müssen, wegen des Nachbarn und überhaupt.
Nie kam in meinen Träumen ein Haus vor, auch nie die Reise um die Welt. Meistens verschweig ich das.
Es ist einfacher so.

Risse 12


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