Nichts unfreier als die Freie Kultur
Mittlerweile wird jede Veranstaltungsplanung zur Krisensitzung
und jede Literaturdebatte mündet in Selbstzensur.
Nicht aus politischen Gründen, aus opportunistischen –
man traut sich nichts und dem Publikum nichts zu.
Der imaginierte Adressat ist ein niederer Primat
ohne Hoffnung auf einen Mutationssprung.
Bei Open-Air-Veranstaltungen kulminiert das Bild
in einer Horde grölender Neandertaler.
Ich halte das für unangemessen.
Es gibt keine archäologischen Bodenfunde,
die eine Bildungsferne des Neandertalers belegen.
Man muss die Leute da abholen, wo sie sind,
bereichert einer, mit dem ich bis vor Kurzem befreundet war,
die Besprechung und ich denke:
OK, aber vielleicht sollte man mit ihnen auch irgendwo hingehen.
Die Veranstalter checken derweil die Texte:
Das funktioniert, das funktioniert nicht,
du funktionierst, du funktionierst nicht.
Ich fühle mich gut zweihundert Jahre zu alt
für diese Reiz-Reaktions-Kultur,
denke an die Autonomie der Kunst,
an die Kritik der Urteilskraft und die Ästhetische Theorie.
Ich glaube allen Ernstes noch, dass Kunst dazu da ist,
nicht zu funktionieren, sich instrumenteller Vernunft zu widersetzen
und das sage ich auch noch laut und werde angeschaut
wie ein Fossil, das sein Ausstreben verpasst hat.
Mein verkanteter Kopf, meine verfrankfurterschulten Ansichten
bereiten mir Unbehagen; schon will ich aufgeben,
aber dann sagt mir so ein Funktionsfaschist,
mit dem ich bis vor Kurzem befreundet war:
Du und dein Adorno. Du musst dich weiterentwickeln.
Mach doch mal was Lustiges, was Harmloses.
Es gibt nichts Harmloses mehr, sage ich,
Theodor Wiesengrund Adorno.
Dann hol ich mir ein Bier und halte fortan die Klappe,
verfolge widerstandslos, wie diese Kulturhomöopathen
ihrem Neandertalerpublikum das Programm anrühren,
das es angeblich braucht – eine gesunde Mischung
aus Humor und Heiterkeit, aus Pointeninkontinenz und Kalauerdiarrhö.
Zwischendurch scherzt jemand, mit dem ich mal befreundet war,
man wisse bei all dem Zuwendungschaos ja nicht,
ob es demnächst überhaupt noch Kultur in MV gäbe.
So nicht, da können die Brotkörbe noch so gigantisch ausfallen.
Viel Spaß im Niedrigschwellenland.
Ich unterdrücke Unbehagen und Übelkeit mit einem weiteren Bier.
Als ich widerkomme erklärt einer der besten Jungautoren des Landes,
er werde diesmal dann doch lieber nichts Eigenes lesen,
sondern was Passenderes. Ich geh kurz aussterben.
Kulturdarwinismus, survival of the funniest.
Aus einem unerfindlichen Grunde komme ich aber zur Lesung
und aus einem noch unerfindlicheren soll ich was vortragen.
Es ist dieser polternde Prolog und dann – nichts Eigenes.
Ich habe mich weiterentwickelt, von mir zu Volker Braun
mit einem Gedichtschnipsel, der mich seit Kurzem verfolgt:
Und nun schrein die Arschlöcher, die nie einen Schritt wagen
Was hat das zu sagen.
Gegen die Erwartungen meiner früheren Freunde
gab es kein Gegröle beim bösen Wort mit A –
Adorno – und Lacher an Stellen ohne Genitalien.
Fast alle haben die ganzen fünf Minuten durchgehalten
ohne sich vollaufen zu lassen, sich zu bespringen und/oder einzuschlafen
und ich gehe versöhnt von der Bühne.
Die Neandertaler sind besser als ihr Ruf.
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