Schnitte, Schärfe, Witz
Der Band der sechs Autoren – vier Ostdeutsche, ein Westdeutscher und ein Österreicher – vereinigt Texte, die als Cut-ups bezeichnet werden. Die Textteile könnten aus Zeitungen oder Büchern ausgeschnitten worden sein, erschienen aber nun in einem anderen Kontext und sind zu einem anderen als dem ursprünglichen Zweck montiert. Man könnte grob sagen, Cut-ups verarbeiteten Textteile so miteinander, dass ihr eigentliche Funktion, ihr unterschwelliges, verstecktes Gemeintsein, erkennbar wird; vorher befanden sie sich in bestenfalls euphemistischen, gewissermaßen degenerierten Zusammenhängen. Die Grundfiguren der Text-Montage sehen auf den ersten Blick ganz einfach aus; Beispiel: In dem Text Who is who/is who or what (Nach Kai Pohl), den Clemens Schittko schrieb, heißt es:
Bestatter heißt jetzt Bestattungsfachkraft
und ist seit der Umbenennung 2003
ein staatlich anerkannter Ausbildungsberuf
was ist denn schon dabei?
Drittes Reich heißt jetzt Deutschland oder BRD
Deutsches Kaiserreich heißt jetzt DDR
DDR heißt jetzt ehemalige DDR
ehemalige DDR heißt jetzt neue Bundesländer
BRD heißt jetzt alte Bundesländer
eine ehemalige BRD gibt es nicht
Europa heißt jetzt das alte Europa
oder, um Russland auszugrenzen, EU.
Was zunächst wie die unproblematische Konstatierung von Bezeichnungsfragen aussieht (»was ist denn schon dabei?«), gerät urplötzlich in die Krise, obwohl die syntaktische Struktur des Textes unverändert bleibt - nach dem Muster »A heißt jetzt B«. Das wiederum heißt, es ist allein die Zusammenrückung, die die erhellende Wirkung erzeugt – hier kommt wirklich einmal zusammen, was zusammengehört. Insofern braucht man sich – wie im zitierten Fall – nicht zu wundern, wenn ein Sympathisant solcherart Textarbeit, der aus Güstrow stammende Dichter Bertram Reinecke, in seinem »Grußwort« zu diesem Band bemerkt: »Man könnte einwenden, es handele sich hier nicht um Sprachgebrauch, eher um Sprachverbrauch. Damit sind wir auf dem verminten Feld des politischen Gedichts angelangt.«
Wie Schittkos Hinweis, der Text sei »nach Kai Pohl« entstanden, deutlich macht, ist es bemerkenswert, wie sehr die Autoren ästhetisch nahe sind. Sie praktizieren und variieren die Textmontageverfahren der anderen auf verblüffende Weise, ohne dass die individuellen Eigenarten nivelliert werden würden. »Die Zusammenstellung gibt ein Beispiel für Sampling und kollektive Textproduktion im deutschsprachigen Raum«, schreibt Kai Pohl – wohl das Zentrum der Autorengruppe – in seiner Einführung.
Diese kollektive Textproduktion hat eine gemeinsame Grundlage im satirisch-politischen und spielerischen sowie im klanglich-assoziativen Zugriff auf die uns umgebende und geradezu bewussteinstrübende Sprache. Eine der Thesen lautet: »ALLES BLEIBT WIE ES IST – NUR DER NAME ÄNDERT SICH: Kiepert heißt jetzt Thalia, Head Hunter heißt jetzt Kopfgeldjäger; es ist ein altes Elend. Dimitroff heißt jetzt Danziger.« Im Text Dada, Blaba und Gaga von Kai Pohl findet sich wiederum ein Motto von Clemens Schittko: »Gib mit Namen, unzählig viele, damit ich eins werde mit der Welt, von der ich nichts verstehe, und verschwinde.« Dieses Motto ist dann quasi Schreibanweisung, und Pohls Text verwendet jeweils drei Namen in versartiger Anordnung, z. B.:»August Macke, Ernst Toller und Johnny Depp«. Das mag man für einen witzigen Kalauer halten, doch Pohls Verfahren ist weitaus komplexer. Ein paar Zeilen zuvor findet sich die Reihung »Edmund Husserl, Jan Hus und Gustáv Husák«. Das ist einerseits ebenfalls namensassoziativ, anderseits bietet es dem Leser die Möglichkeit, spielerisch einen politisch-philosophischen Zusammenhang herzustellen, ohne dass der Witz verloren ginge und ohne dass die Zusammenstellung als zufällig-beliebig aufgefasst werden dürfte.
Möglicherweise wird für manchen Leser ein Problem sein, dass ein Großteil der vorgestellten Texte dieses Bandes wegen der jeweils konsequent durchgeführten Verfahren Monotonie, gar Langweile erzeugen können. Deshalb empfiehlt sich zur Genusserhaltung und -steigerung die portionierte, dosierte Lektüre. Denn Kumulation ist ein Kennzeichen dieser Cut-ups, die beim Leser offenbar den Eindruck erzeugen sollen, von hohen potjomkinschen Sprachmauern umgeben zu sein, die um die wirkliche Wirklichkeit gebaut worden sind. Und genau solche Mauern sind das Angriffsziel der Autoren dieses Bandes, die sich zwar mit einer Degeneration konfrontiert sehen, darauf aber mit Sensibilität, Vitalität, Schärfe und Witz reagieren. Als Leser bekommt man bei der Lektüre den Eindruck, mit der Dynamik der Bezeichnungen und Bezeichnungsänderungen werde die Stagnation des gesellschaftshistorischen Prozesses kaschiert. Das tote Signifikat wird geschmückt und umtanzt von delirierenden Signifikanten – eine unschöne Vorstellung; von der manipulativen Funktion dieses »Sprachverbrauches« (B. Reinecke) einmal ganz abgesehen.
Wolfgang Gabler
Kramer/Mießner/Pohl/Schittko et al.: my degeneration. the very best of WHO IS WHO. Texte 2004-2013, Greifwald: freiraum-verlag, 134 S., 14,95 €.
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