Anlässlich des 125. Todestages von Theodor Storm (1817-1888)
Wiedergelesen habe ich Storm, als mir ein Statement wieder in die Hände fiel, mit dem Storm seinem Ärger über das Auftreten preußischer Beamter in Schleswig-Holstein nach dem Deutsch-Dänischen Krieg (1864) Luft gemacht hatte. Er wetterte: „Kommt doch jeder Kerl von dort mit der Miene des kleinen Eroberers und als müsse er erst die höhere Weisheit bringen.“ Storm ärgerte sich, obwohl er sich hätte freuen sollen, denn Preußen und Österreich beendeten die illegitime dänische Einverleibung norddeutscher Gebiete. Aber die Befreier wurden zu Besatzern.
Und das kam mir – knapp 150 Jahre später – bekannt vor. Denn Storms Erklärung aus dem Jahr 1867 liest sich wie ein Kommentar zu den Folgen des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik: „Wir können nicht verkennen, daß wir lediglich unter Gewalt leben. Das ist desto einschneidender, da es von denen kommt, die wir gegen die Gewalt zu Hilfe riefen und die uns jetzt, nachdem sie jene bewältigen geholfen, wie einen besiegten Stamm behandeln, indem sie die wichtigsten Einrichtungen, ohne uns zu fragen, hier über den Haufen werfen und andere dafür oktroyieren. (…) Auf diese Weise einigt man Deutschland nicht.“[1]
Mir wurde bewusst, dass Storms Brieftext in mir eine Art Echo erzeugte, obwohl es sich um eine ganz andere Zeit handelt und eine seherische Gabe Storms wohl nicht in Betracht gezogen werden muss.
Der zweite Impuls, Storm wiederzulesen, war ein Gespräch mit Hermann Kant, der mir im April 2007 erzählte, er habe seinem Roman Kino (2005) eigentlich den Titel Hall – Widerhall geben wollen, aber das habe der Aufbau-Verlag abgelehnt. Dort hielt man einen solchen Titel für leserirritierend (und das darf ja nicht sein, wie wir wissen: Alles muss runtergehen wie Öl).
Dabei gibt es im Kino-Text eine Passage, die Kants Titelvorschlag rechtfertigen würde. Denn es handelt es sich um das Leitmotiv des Storm-Gedichts Die Nachtigall, das der Ich-Erzähler des Romans in den höchsten Tönen lobt (indem er ein Gespräch mit einem Polizisten indirekt wiedergibt): „Nach meinem Dafürhalten habe man es nicht nur mit einem meisterlichen, sondern einem weltmeisterlichen Kunstwerk zu tun. Einverstanden, Shakespeare, Puschkin und die ganze Korona, aber an Theos Nachtigall komme keiner ran.“[2] Hier nun das „weltmeisterliche“ Gedicht:
Die Nachtigall
Das macht, es hat die Nachtigall
Die ganze Nacht gesungen;
Da sind von ihrem süßen Schall,
Da sind in Hall und Widerhall
Die Rosen aufgesprungen.
Sie war doch sonst ein wildes Blut;
Nun geht sie tief in Sinnen,
Trägt in der Hand den Sommerhut
Und duldet still der Sonne Glut
Und weiß nicht, was beginnen.
Das macht, es hat die Nachtigall
Die ganze Nacht gesungen;
Da sind von ihrem süßen Schall,
Da sind in Hall und Widerhall
Die Rosen aufgesprungen.[3]
Wie ein Echo, ein Widerhall, wiederholt die dritte Strophe die erste, und wir sehen recht schlichte lyrische Gestaltungsmittel, wie sie für Storms Gedichte typisch waren. Denn der Kern seiner Lyrik – noch nicht zur klassischen Moderne gehörig – ist ein unmittelbares und inniges Erleben, an dem ein lyrisches Subjekt gewissermaßen eine bis dahin unerhörte menschliche Erfahrung veranschaulicht. Und dieses lyrische Subjekt teilt in den meisten Fällen die Position des Dichters Theodor Storm.
Insofern hat Storms Lyrik nichts mit der von Fontane bespöttelten heimattümelnden „Husumerei“ zu tun, selbst wenn die stoffliche Oberfläche der lyrischen Szenerien danach aussieht.
Mir ist bewusst, dass der Anlass der Re-Lektüre von einer bestimmten Perspektive geprägt war, aus der heraus ich Storms Gedichte noch einmal las. Es war das Motiv des Halls, des Echos; eines Phänomens also, das ich an mir selbst bemerkt hatte und von dem sich der Eindruck vermittelte, es handele sich um ein zentrales Motiv bei Storm.
Und richtig: Immer wieder stieß ich auf Echo-Strukturen in den lyrischen Darstellungen – und zwar von Beginn seines Schreibens an.
Erste Gedichte schrieb Storm im Alter von 15 Jahren. Sicherlich, das will zunächst nichts bedeuten, das machen viele. An Emma[4] hieß das erste veröffentlichte Gedicht; es fängt so an:
Willst mich meiden,
Grausam scheiden,
Nun Ade!
Ach kein Scherzen
Heilt die Schmerzen
Meines Weh!
Trennungsschmerzgedichte sind in dem Alter wie gesagt nichts Besonderes – besonders indessen und bemerkenswert ist das kontrollierte Sprechen des lyrischen Ichs. Selbst die auch damals bereits vernutzten Reime (z. B. „meiden“ – „scheiden“) wirken, als wolle das Ich mit einer bewusst verbrauchten Sprache eine aggressive Geste gegenüber „Emma“, die das Ich verlassen und verletzt hatte, deutlich machen. Das Ich ist sich aber gewiss, ein anderes Mädchen als Liebesobjekt zu finden, denn der Schluss scheint tröstlich zu sein:
Andrer Scherzen
Heilt die Schmerzen
Meines Weh!
Diese sprachliche Parallelisierung sowie die gleichzeitige semantische Kontrastierung von Anfang und Schluss ist sprachlich jedoch so unaufwendig organisiert – „Ach kein Scherzen“ wird durch „Andrer Scherzen“ ersetzt – dass getrost an der Hoffnung auf bzw. an der Aussicht auf Trost gezweifelt werden darf. Der Leser muss bei der Lektüre von Storms Gedichten also auf der Hut sein. Denn sowohl innerhalb der lyrischen Szene gibt es gewissermaßen ein Echo auf das Gesagte (Anfang und Schluss) als auch zwischen Text und Leser ist ein Echo intendiert, insofern der Leser wahrnehmen kann, was das lyrische Subjekt nicht wahrhaben will, nämlich einen Selbstbetrug, zumindest eine Selbsttäuschung. Auf diese Weise wird der Leser gewissermaßen gedrängt, sich selbst für einen Widerhall zu sensibilisieren und so die Perspektive und die Wahrnehmungsmöglichkeit des Ichs zu übersteigen.
Das Echo- bzw. Hall-Widerhall-Motiv erweist sich als durchgängiges Grundmuster der Lyrik Storms. Es sei lediglich noch ein Beispiel aus der Spätphase zitiert: Verloren (1873):
Was Holdes liegt mir in dem Sinn,
Das ich vor Zeit einmal besessen;
Ich weiß nicht wo es kommen hin,
Auch, was es war, ist mir vergessen.
Vielleicht – am fernen Waldesrand,
Wo ich am lichten Junimorgen
– Die Kinder klein und klein die Sorgen –
Mit dir gesessen Hand in Hand,
[…]
Und glücklich lächelnd schwieg dein Mund;
In grünen Schatten lag der Ort –
Wenn nur der weite Raum nicht trennte,
Wenn ich nur dort hinüberkönnte,
Wer weiß! – vielleicht noch fänd ich’s dort.[5]
Hall und Widerhall sind Metaphern von Storms Lebensthema, wie die Leipziger Literaturhistorikerin Regina Fasold es beschrieb: „In seinem Grübeln über den Sinn des Daseins […] quälte Storm offenbar von Beginn an der Gedanke, daß das menschliche Leben endlich und die individuelle Existenz damit einem unaufhaltsamen, dauernd wirkenden Prozeß des Vergehens und Vergessens ausgesetzt ist.“[6]
Man darf also Storms lyrisches Echo-Motiv auch als poetischen Protest gegen den existenziellen „Vergänglichkeitsgedanken“ (Storm) verstehen. Als Dichter suchte er nach Wegen, dem Vergessen Widerstand entgegensetzen zu können, indem er den Nachhall thematisierte. Und dies tat er in seinem Selbstverständnis vor allem als Lyriker: „Ich bin … wesentlich Lyriker, und meine ganze dichterische und menschliche Persönlichkeit, alles, was von Charakter, Leidenschaft und Humor in mir ist, findet sich nur in den Gedichten, dort aber ganz und voll; in meiner Prosa sind die Grenzen wesentlich enger.“[7]
Dennoch schließen diese Grenzen der Prosa selbstverständlich immer wieder Hinweise auf Storms Lebensthema ein. So trägt in Aquis submersus ein Haus an seinem Giebel die Inschrift: „Gleich so wie Rauch und Staub verschwindt, / Also sind auch die Menschenkind.“[8]
[1] Brief Storms an den Rostocker Kunsthistoriker Friedrich Eggers, in: Theodor Storm: Sämtliche Werke, Bd. 1, Berlin und Weimar: Aufbau Verlag, 19866, S. 73f.
[2] Hermann Kant: Kino. Roman, Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag, 2007, S. 81f.
[3] Theodor Storm: Die Nachtigall, in: ders.: Gedichte. Auswahl, hg. v. G. Grimm, Stuttgart: Reclam, 1978, S. 25f.
[5] Theodor Storm: Verloren, in: ders.: Gedichte, a. a. O., S. 51.
[6] Regina Fasold: Zu einigen Aspekten von Theodor Storms Weltbild, in: Weimarer Beiträge 36(1990)1, S. 102.
[7] Zit. n. Peter Goldammer: Theodor Storm. Eine Einführung in Leben und Werk, Leipzig: Verlag Philipp Reclam jun., 1968, S. 54.
[8] Vgl. Regina Fasold: Zu einigen Aspekten …, a. a. O., S.103.
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