Christoph Hein ging mit seinem neuen Roman das Wagnis ein, als männlicher Autor eine weibliche Ich-Erzählerin zur Hauptfigur zu machen. Hein, der sich selbst als Chronist bezeichnet und dessen Schreibstil wegen seiner Härte und Klarheit eher als männlich bezeichnet wird, ist dieses Wagnis bereits einmal mit Erfolg eingegangen: Der Roman Der fremde Freund oder auch Drachenblut war in den achtziger Jahren ein großer Erfolg. Der Hauptfigur dieses Romans, der Ärztin Claudia, folgten dann Historiker, Autoverkäufer, Terroristen. Mit diesen Herren hatte Christoph Hein weniger Glück. Nun also wieder eine Frau, die durchaus an Heins Hauptfigur aus den achtziger Jahren erinnert. Wie Claudia siedelte Hein Paula Trousseaus Kindheit in den fünfziger Jahren an. Paula schätzt sich ähnlich wie Claudia als krisenfest ein, wenn sie sich vielleicht auch nicht gerade in „Drachenblut“ gebadet glaubt. Wie Claudia hat auch Paula eine Freundin namens Katharina, mit der sie offenbar mehr als eine Schulfreundschaft verbindet. Heins neuer Roman kann also durchaus als Fortsetzung seines Romans über Claudia gelesen werden. Euphoricus und Dysphoricus fragen sich nun, ob Hein uns nun einen ähnlich belebenden Trank oder nur kalten Kaffee aufbrüht.
Euphoricus
Christoph Heins Paula T.
Christoph Heins Roman über die „Abenteuer der Selbstbehauptung“ der Malerin Paula Trousseau – so zu lesen im Umschlagtext – ließ einige Rezensenten von der rätselhaften Schönheit dieses Buches schwärmen, andere hielten Heins Text für eine biedere und altmodische Geschichte.
Letztere übersehen aber, dass es genau diese scheinbar brave Art des Erzählens ist, die den Blick für die Hauptfigur und deren Lebensumstände schärft.
Natürlich weckt die Ankündigung des Lebensberichtes einer Künstlerin, der sich von ihrer Kindheit in den fünfziger Jahren der DDR bis zum Ende der neunziger Jahre erstreckt, große Erwartungen. Hein hätte Frau Paula Trousseau als Repräsentantin einer sozialen Gruppe anlegen können, die für Verweigerungs- oder Versagensbiographien in der DDR besonders prädestiniert scheint. Allein die Kopplung der Lebenszeit Paula Trousseaus an die Lebenszeit der DDR hätte sich angeboten, eine an Aufstieg und Fall der DDR angelehnte Lebensgeschichte zu erzählen.
Heins Roman verzichtet aber auf solch ein spektakuläres Erzählmodell, welches die Gefahr birgt, sich in Stereotypen zu erschöpfen. So lässt er den Leser eine ganze Lesestrecke im Ungewissen, wie Paula Trousseaus Lebenserinnerungen überhaupt historisch zu verorten sind.
Denn die Erinnerungen der Ich-Erzählerin Paula kreisen vor allem um die Frage nach den Möglichkeiten eines selbst bestimmten Lebens, deren Weichen schon in der Familie gestellt werden. Bereits in der ersten Erinnerungsszene des Romans erklärt Paula ihren Eltern, dass sie ihre Hochzeit verschieben muss, um eine Aufnahmeprüfung an der Kunsthochschule zu absolvieren. Sie will Malerin werden. Der Vater reagiert mit Hohn und Unverständnis, fast mit Gewalt: „Vater fasste mir unters Kind und riss meinen Kopf hoch, so dass ich ihm in die Augen blicken musste.“
Die Beschreibung dieses familiären Konfliktes vertieft Christoph Hein mit aus auktorialer Perspektive erzählten Sequenzen. Diese zeigen Paulas Kindheit zwischen einem autoritären Vater und Schuldirektor, einer verzweifelten und darüber zur Trinkerin gewordenen Mutter, einer groben älteren Schwester und einem zum Krüppel gewordenen Bruder.
In diesen Erinnerungsstücken fängt Hein das Absurde und Groteske dieser Familiensituation, aber auch des gesellschaftlichen Klimas in den fünfziger Jahren der DDR auf brillante Weise ein. So, wenn der Vater unverdrossen zwei russische Soldaten der Roten Armee einlädt, um mit diesen alkoholselig auf die siegreiche Rote Armee anzustoßen, während Sascha und Wanja gleichzeitig zwischen den Beinen der mit an den Tisch gezwungenen Töchter hantieren: „Erst als ihr Vater die Gläser nachgefüllt hatte, zogen die Soldaten ihre Hände unter den Röcken der Mädchen hervor, stießen mit dem Vater an und wiederholten lachend dessen russischen Trinkspruch.“
Bieder sind hier die Verhältnisse, nicht Christoph Heins Roman.
Die Erinnerungen der Ich-Erzählerin dagegen sind oft scheinbar schlicht und lakonisch wiedergegeben. Die Zeichnung der Mitmenschen und Zeitgenossen, die sie in ihren Erinnerungen vornimmt, sei manchmal recht hölzern oder auch blass. So jedenfalls lautet einer der Einwände gegen Christoph Heins Roman. Diese Beobachtung kann man allerdings nur als Vorwurf betrachten, wenn man der Perspektive der Ich-Erzählerin bedingungslos folgt und die Signale übersieht, die zur Distanz gegenüber der Ich-Erzählerin auffordern. Es handelt sich nämlich um einen Lebensbericht, den Paula Trousseau kurz vor Ihrem Selbstmord verfasst, um sich ihrer Tochter Cordula zu erklären. Mit diesem Bericht rechtfertigt sie, warum nicht sie, sondern ihr geschiedener Mann die Tochter erzogen hat. Wer erwartet vor diesem Hintergrund eine ausgewogene, feingliedrige Darstellung?
Dieser vermeintlich etwas grob geschnitzten Sichtweise auf die Mitmenschen – hier ist wohl eher von einer grob geschnitzten Leseweise der Rezensenten auszugehen – entspricht auch das Naturell der Hauptfigur. Paula Trousseau ist als Tochter, Frau und Künstlerin permanent in Selbstbehauptungskämpfen verwickelt.
Man behandelt sie hier nicht immer zimperlich. Die harte, gewissermaßen hölzerne Schale hilft ihr, sich zu behaupten und schreibt sich auch in ihre Erinnerungen ein.
Paula Trousseau ist allerdings auch nicht zimperlich im Umgang mit sich selbst.
Diese wie auch andere Konstellationen bergen sogar eine gewisse Komik, die nur wenige Rezensenten bemerkt haben.
So lässt Hein seine Hauptfigur resümieren: „Die fünf Jahre an der Kunsthochschule überstand ich gut…..Die Ehe überstand ich weniger gut. Nach vier Jahren wurden wir geschieden. Die Scheidung hatte ich beantragt.“
Hein tut also einiges, um gegen den Sog zu steuern, der von einer Ich-Erzählung ausgehen kann. Mitunter desavouiert er seine Protagonistin sogar. Dies trifft insbesondere für ihre Beschreibung von Männern zu: „Jan gefiel mir. Er verströmte den angenehmen Geruch eines mit sich zufriedenen Menschen. Unglückliche Menschen kannte ich zur Genüge, beginnend mit meiner Mutter und meinem Vater hatte ich mehr unglückliche als glückliche kennen gelernt, und ich fand sie lästig, belästigend.“
Im Gegensatz zu den Männern beschreibt Paula Frauen dagegen grundsätzlich liebevoller. Es sind überhaupt die Frauen, die eine Art Netz bilden, in das sich Paula einbindet. In der Schilderung dieser Begegnungen wie auch in anderen Sequenzen transportiert der Roman feine Beobachtungen. Es ist gerade dieser Kontrast zwischen Paulas Erklärungen und ihren feinen Beobachtungen, die Ihren eigenen Erklärungsversuchen mitunter zuwider laufen, der den Roman prägt.
Hein hat mit Paula Trousseau eine Figur geschaffen, deren Leben scheinbar unspektakulär verläuft, das sich aber für sie selbst als ständige Herausforderung darstellt. Sie hatte als Malerin kaum Erfolg und war in der Durchsetzung ihres künstlerischen Programms nicht sehr konsequent. Das liegt auch daran, dass Ihr das Leben für Ihren Sohn Michael wichtiger war als die Nähe zur Aufträge verheißenden Künstlerszene.
Mit Paula Trousseau Erinnerungen zeigt Hein einen Lebensentwurf, der sich vordergründigen Kriterien entzieht und mit Begriffen wie Erfolg oder politische Korrektheit nicht zu greifen sein wird.
Paula Trousseaus Erinnerungen lassen das Bild einer Frau entstehen, deren Behauptungswille zwar manchmal überzogen scheint, deren Kraft und Trotz man sich aber nicht entziehen kann. Es ist gerade die vermeintlich altmodische Art, in der Hein Paulas Leben Revue passieren lässt, der die Schönheit dieses Romans ausmacht.
Dysphoricus
Erkundigungen über Paula
Eine meiner dysphorischen Grundsätze lautet: Auch ein Genie hat das Recht, sich nicht weiter zu entwickeln. Was für Musiker gilt, das gilt erst recht auch für Literaten, nur ist es da mitunter schwieriger zu erkennen.
Zur Sache: Christoph Hein hat einen neuen Roman veröffentlicht. Hein, das ist so ein bisschen der geheime Star derjenigen, die in der DDR ihre ersten Leseerfahrungen sammelten, die keine Lust hatten, Christa Wolf zu lesen und keine Chance hatten, Lesestoff aus dem Westen zu bekommen. Die intellektuelle Schwerelosigkeit und Hintergründigkeit von Romanen wie Der fremde Freund, Der Tangospieler und natürlich Horns Ende waren legendär, die Bücher – denn auch sie wurden nicht selten als Bückware gehandelt – machten zerfleddert die Runde.
Und heute? Von allem Anfang an (1997) war noch einmal eine Großtat des Meisters. Aber dann kam nichts mehr. Landnahme zum Beispiel war unsäglich langweilig. Und Frau Paula Trousseau ist nicht viel besser. 500 Seiten Biografie einer emotional verhärmten Person. Wer will so was lesen? Wobei natürlich eines gesagt werden muss: Das Buch liest sich gar nicht so schlecht. Zack, zack ist man damit durch. Aber was bleibt? – Um mal Christa Wolfs mundwinkelhängende Feststellung als Frage umzuformulieren. Mein lieber Euphoricus stellt fest, der Autor habe Stereotype vermieden. Weit gefehlt! Der Text bleibt eine fiktive Biographie, die sich von einem Klischee zum anderen und an der Geschichte der DDR entlang hangelt. Der DDR-Kunst, der Auseinandersetzung der Individuen mit der DDR sowie der seit dem Zusammenbruch der DDR stattgehabten Auseinandersetzung vermag der Roman jedoch nichts, aber auch gar nichts Neues hinzuzufügen.
Dass es unbotmäßige Geister schwer hatten, muss niemandem mehr erzählt werden. Auch die ästhetischen Scheuklappen, die bis in die späten Achtziger wirkten, sind ja leidlich bekannt, genauso wie die Ausgrenzung, die widerborstigen Menschen widerfuhr. Sodann kommt das Klischee von der Erziehung im autoritären Elternhaus, die schon ganz andere Leute erklärt haben. Und dann: als es interessant wird mit der Beantwortung der Frage, wie es einem derart festgenagelten Charakter gelingen mag, mit einem Epochenumbruch fertig zu werden, kommt das nächste Klischee. Natürlich konnten die wenigsten DDR-Künstler nach dem Einsturz des Staates ihre Arbeiten verkaufen. Einige erholten sich, viele nicht. Frau Paula Trousseau begeht Selbstmord, und zwar ausgerechnet dort, wo es das Herz der Eingesperrten stets hingezogen hat: In Frankreich. „In Paris kann ich nicht malen“, hat der Maler Oskar Manigk einmal unglaublich vieldeutig getextet – und damit die Perspektive von Heins Heroine bereits vor Jahren festgeschrieben.
Überhaupt der Name: Trousseau – das soll wohl eine Mischung sein aus Rousseau und Tussaud? Eine Figur, die sich eben nicht in den wohlfeilen Gesellschaftsvertrag einfügt, weil sie die Vertragsbedingungen nicht akzeptiert und auch gar nicht danach gefragt wurde? Die mithin nicht ihre eigenes wohl dem der Gemeinschaft unterordnet? Eine Figur, die sich wachsfigurengleich überhaupt nicht verändert und bleich bleibt wie das weiße Gemälde, das als mittelmäßiges Motiv im Text auftaucht?
Apropos Wachsfiguren: Diese Eigenschaft haben auch etliche andere Figuren des Romans, der bei genauerer Betrachtung überhaupt nur von literarischen Zombies bevölkert scheint – und da muss ich meinem Widerpart Euphoricus vehement widersprechen: Die Männer sind autoritär und arrogant, die Frauen haben alle eine Tendenz zur Homoerotik. Wie einfach wäre das Leben in der DDR mit so einfältigen Charakteren gewesen. Ähnlich blass, oder um im Bild zu bleiben: holzschnitthaft, ist auch die Sprache. Allein schon, wie oft es in der abführenden Rede heißt: „...erkundigte sich“!
Derartige Erkundigungen hätte ich mir gern gespart, und auch wenn das Prinzip, fiktive „Fakten“ auszubreiten, mehr als ersichtlich ist, muss wohl gesagt werden: Da ist der Chronist ziemlich übers Ziel hinaus geschossen.
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