24.03.2012 junge Welt von Kai Pohl
Klar, nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern. Wer einen Blick wirft auf Bestsellerlisten, Blogstatistiken, Einschaltquoten, mag selbst entscheiden, ob das Ernstgenommene zugleich das Ernstzunehmende ist. Die medialen Triebwerke verbrauchen Aktualität in gesteigerten Dosen, um heute schon zu vergessen, was morgen passiert. Dagegen ist der Frühlingsanfang ein prima Zeitpunkt, um einige Hinterlassenschaften des literarischen Zeitschriftenwinter zu begutachten.
Die 27. Ausgabe der Risse titelt mit den Flüssigkeiten Blut, Wodka, Sperma, Kaffee. Das Sperma, man ahnt es, bezieht sich auf den Beitrag einer Frau: Gisel Perlet (1942-2010; Ritterin des Dannebrog-Ordens, Trägerin des Bundesverdienstkreuzes). Der Wodka wiederum verweist auf Uwe Schloen und seine Kurzprosa, deren bestes Stück allerdings von Eierlikör handelt: »Dort treffen wir auf Lenka, und sie ist schon wieder in der Stimmung, daß sie ihre Gedärme spürt. (...) Wie soll sie das ganze Szenario ohne Eierlikör überstehen? Unmöglich! Also gießt sie ihn großzügig in sich rein. Eigentlich ist die von Jesus Christus erfüllt, aber ein bißchen Platz ist noch.« Zusammen mit der Nr. 27 der »Zeitschrift für Literatur in Mecklenburg und Vorpommern« erscheint das Sonderheft Nr. 6, Thema »Früher war alles besser«. Ein Text darin, die »Jahrestagsrede« von Helene Mensch, beginnt mit den Worten: »Meine glücklichen Bürger, wir haben die Freiheit abgeschafft.« Das wirkt aus heutiger Sicht wie eine Projektion auf den Amtsantritt des 11. Bundespräsidenten, der wie die "Risse" aus Rostock kommt.
Und was passierte eigentlich im Dezember außer Christian Wulff? Es erscheint Heft 5 des DreckSack sowie der Prolog 8; Michael Arenz (Bochum) brachte mit der Nr. 22 seiner Zeitschrift Der Mongole wartet einen weiteren 500-Seiten-Ziegelstein im Umlauf; in Wien wurde die Nr. 61 der Wienzeile freigesetzt und in Graz die Doppelausgabe 69/70 der perspektive zum Thema »Fixation« veröffentlicht. So unvergleichlich die beiden letztgenannten Blätter sind, so sehr ähneln sie sich in der Selbstdarstellung. Die perspektive »befaßt sich zeitgenössisch mit dem Avantgardethema«, sieht sich aber wieder als »Museumswärterin für historische noch Küstenwache für Neoavantgardebewegungen«. Die Wienzeile verortet sich »anarchistisch-avantgardistisch« und verwahrt sich gegen »Scheinästhetizismen und Zeitgeistigkeit«; zwei Variationen des Themas, mit dem zu der aktuellen Ausgabe aufgerufen wurde, finden sich auf dem Umschlag: Vorn prangt der Slogan »Warum der Außernseiter Gesellschaft braucht«; die Rückseite kontert mit einer Liste zynischer Statements zu der Frage »Warum die Gesellschaft ihre Außernseiter nicht verdient«.
Der Mongole wartet und der Prolog widmen sich gewollt vordergründig der Konfrontation von Literatur mit Werken der bildenden Kunst. Eine weitere Spezialität des Prolog sind die Ausstellungen und Lesungen mit beteiligten Autoren und Künstlern, die zu jeder Heftpräsentation stattfinden.
Auch der allerneueste Superbastard 3, am meteorologischen Frühlingsanfang in Augsburg erschienen, lädt ein zu Premierenhappenings. Herausgegeben von Bendikt Maria Kramer, diesmal unter dem vielversprechenden Titel »Kollaps« mit einem »10 Jahre War on Terror Spezial«, ist das Blatt die Fortsetzung des unvollendeten Bastard von Franz Dobler und wird im MARO-Verlag von Benno Käsmayr gedruckt.
Und was ist mit dem DreckSack? »Der DreckSack bin ich«, sagt Florian Günther. »Ich mag diese elitäre Scheiße nicht, dieses ›hach, wir sind ja so großartig. und je weniger wir verstanden werden, des besser sind wir‹ – Nein! Die Leute, die den ganzen Tag arbeiten, haben es verdient, daß sie verstehen, wovon wir schreiben. Auch der Mob hat das Recht, ein Gedicht zu verstehen.« Die nächste Chance auf mobtaugliche Lyrik gibt es zur Präsentation von Heft 6 der »Lesbaren Zeitschrift für Literatur« am heutigen Sonnabend ab 21 Uhr in der Kulturspelunke Rumbalotte continua in Berlin.
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