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Kratzende Verse suchen Kontakt

11.10.2001 Ostsee-Zeitung von Adrian Foitzik

Wolgast (OZ) Ein Dichter am Ende der Welt. Am nördlichen Rand von Wolgast, fast schon im Wald, wohnt Kurt Scharf. In einem unscheinbaren Mehrstöcker. Leben und Dichten in einem schlichten Zimmer: Bett, Tisch mit Schreibmaschine, Regale voller Bücher, Stapel von CDs. Dazwischen Manuskripte und beschriebene Zettel. Kontinuierlicher Arbeitsprozess. Telefonverbindung zur Außenwelt dagegen Fehlanzeige. Und doch nimmt Kurt Scharf unentwegt Kontakt auf. Schickt Gedichte als Celansche Flaschenpost in die Welt hinaus. „Das Gedicht ist eigentlich tot“, überlegt er. „Um zu leben, braucht es den Rezipienten, der es findet.“ Mit dem es ein Gespräch beginnt. Keine Rede von Weltflucht.
„Der Kontakt mit der Umwelt, die Erfahrung, steht beim Dichten am Anfang. Lyrik ist immer Reflexion von Erlebtem.“ Sich „Welt einschenken“ heißt das in einem frühen Gedicht. Bei bloßer Beschreibung der Umwelt bleibt es nicht. Er sei ein politisches Wesen, sagt Scharf. Im Sonetten-Zyklus „D“ (1993) oder in den 1999 in der Literaturzeitschrift „Risse“ veröffentlichten „Kriegsgegrunze“ und „Schlachtenklang“ ist dieser Bezug zur politischen Realität ganz unverhohlen.
1954 in Sachsen-Anhalt geboren, begann Scharf als Schüler zu schreiben, kam mit den Eltern nach Wolgast, machte dort Karriere als „Feierabenddichter“. Lernte Maschinenbauer, schrieb nach Dienstschluss auf der Peene-Werft. Las in „Zirkeln schreibender Arbeiter“. Sattelte um zum Melker. Machte ein Fernstudium beim Literaturinstitut Johannes R. Becher. Nach 1989 war Schluss mit den Zirkeln, mit der Gemeinsamkeit im Schreiben. Er begann eine Umschulung zum Masseur. Doch weil ein Praktikum nicht anerkannt wurde, konnte er die Ausbildung nicht abschließen.
Seitdem dichtet er ganztags. „Schon ab fünf Uhr morgens.“ Auch als Melker war er immer früh aufgestanden. Viele Rücksichten muss er ohnehin nicht nehmen. „Eine Frau gab es da mal“, sagt er vage. Muss wohl lange her sein. Und mit dem Sohn hat er seit Jahren keinen Kontakt.
Das Ende der Kollektive, der privaten und der öffentlichen, Scharf bedauert es nicht wirklich. „Auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, ist kein Nachteil.“ Kollektive neigten zur Blindheit. Dass auch er die DDR nicht „unbeschädigt“ überstand, verschwieg er nach deren Ende nicht. In einer Wolgaster Lokalzeitung bekannte er öffentlich, zwischen 1978 und 88 „IM Händel“ gewesen zu sein. Wer sich von ihm denunziert fühle, „dem werde ich mich offen stellen“, schrieb er damals.
Dem freischaffenden „Einzelgänger“ bläst heute der Wettbewerb kalt ins Gesicht. Mit Stipendien hält er sich über Wasser. Seinen ersten Gedichtband hat er nach 1990 veröffentlicht. „Kometen und Katzen“ heißt die Sammlung mit Lyrik von 1969 bis 1993, die nicht die letzte sein soll. „Ich hoffe, auch in diesem Jahrtausend wieder einen Band herauszubringen.“ Material gibt es genug. Die Sammlung „Kälte“ beispielsweise, oder den Zyklus „99+“, eine Art lyrisches Tagebuch, mittlerweile auf über 80 Gedichte angewachsen. Allesamt trochäische Fünfheber, da nimmt Scharf es ganz genau.
Die lyrischen Formen, Sonett und Elegie stellen auch den Kontakt zu den „Dichtergefährten“ her, zu Shakespeare, Brockes, Klopstock, Günther und Braun. Den Moden und Bequemlichkeiten des heutigen Lesers laufen die Gedichte nicht hinterher. Gefällig sind sie nicht, im Gegenteil: Manchmal „drehn (sie sich) um//und kratzen.“ Wenn sie deshalb den Leser nicht finden, müsse er damit leben, meint Scharf.
Die Hoffnung, jemanden zu erreichen, irgendwo anzukommen, Nachdenken, Neugier, Gefühle zu wecken, bleibt trotzdem. „Ich brauche dies Blatt/nur zu zerreißen -/um sicher zu sein/nichts/verändert zu haben“, heißt es in einem jüngeren Gedicht. Es ist Scharf ernst mit dem Bemühen um Kommunikation. In den „Rissen“ hat er unlängst Werke polnischer Lyriker nachgedichtet, oder–völlig unerwartet–den Kniebeugen-Stundenrekord (3764) aufgestellt. Privat habe er schon an der 4000-Marke gekratzt, vielleicht sei bald Zeit für den nächsten öffentlichen Rekordversuch. Zunächst gilt es aber, Beiträge für die nächste „Risse“-Ausgabe in Druckform zu bringen.
Der Kontakt zur Umwelt reißt also nicht ab. Stets neugierig, was in der Welt passiert, holt er sie sich täglich in die Schreibstube: mit Fernseher und Zeitungen. Insofern ist bei aller Ironie auch „Das Ende der Welt“ ernst gemeint: „Gott/und/die Zeitungen/erscheinen/nicht mehr.“

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